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Kultur

3. November 2022

Systemrelevanz und Chancen

Das Braunschweig-Wolfsburg-Sofa

Von Johanna Feckl

(Fotografie: Marc Stantien)

Zwei Theaterhäuser & eine Pandemie

Für diese Ausgabe hat das Stadtglanz-Team mit Dagmar Schlingmann, Generalintendantin am Staatstheater Braunschweig, und Dirk Lattemann, Intendant und Geschäftsführer am Scharoun Theater Wolfsburg, gesprochen: Wie geht es dem Theater inmitten von Corona? In beiden Häusern herrscht Einigkeit über eine mangelnde Anerkennung des Theaters als Bildungsstätte, aber auch über einen Gewinn für die Kunst durch neue Bühnenformate.

Herr Lattemann, Sie wurden mitten im Pandemie-Jahr 2020 Intendant in Wolfsburg. Es gibt durchaus dankbarere Zeitpunkte, um die erste Theater-Intendanz zu übernehmen – dennoch haben Sie es getan. Warum?

Dirk Lattemann: Schon weit vor dem offiziellen Start meiner Intendanz war ich damit beschäftigt, den Spielplan für die Saison 2021/2022 auszuarbeiten – der Wechsel war lange geplant, das ist üblich in der Szene. Es stand für mich überhaupt nicht zur Diskussion, dass ich die Intendanz wegen Corona nun doch nicht übernehme.

Frau Schlingmann, das aktuelle Spielzeit-Motto lautet bei Ihnen: „Die Zukunft so hell.“ Das Motto wurde vor Corona festgelegt, aber recht hell sieht die Welt im Moment eher nicht aus. Weshalb haben Sie trotzdem an dem Wahlspruch festgehalten?

Dagmar Schlingmann: Hell sah es auch nicht aus, als wir das Motto ausgewählt haben. Der Kern des Spruchs ist ein wenig trotzig: Es ist kein „Juchu, in der Zukunft sieht alles rosig aus“, sondern ein Aufruf, die Zukunft aktiv so zu gestalten, dass sie rosig wird. An diesen Möglichkeiten zur Mitgestaltung ändert auch Corona nichts.

Ihre beiden Häuser unterscheiden sich in erster Linie darin, dass es in Braunschweig feste Ensembles gibt, in Wolfsburg hingegen finden Gastspiele statt. Ist das eine leichter durch die Pandemie zu führen als das andere?

Dagmar Schlingmann: Wir in Braunschweig haben das Schauspiel-Ensemble, Tänzerinnen und Tänzer, das Orchester, den Chor, die Technik, Werkstätten – das sind sehr viele Menschen, die sich hier unter einem Dach verbinden. Für mich als Theaterleiterin ist es eine große Herausforderung, all diese Menschen durch die Krise zu führen. Es ist ein ständiges Stop and Go: Was für Darstellungsmöglichkeiten sind erlaubt? Was davon können wir ausprobieren? Was möchten wir überhaupt ausprobieren? Wann probieren wir es aus? Das sind Entscheidungen, die auch ich zum ersten Mal in meinem Leben treffen muss. Im Moment arbeiten wir daran, wieder in den Probenbetrieb einzusteigen, damit wir vorbereitet sind, wenn ein Spielen vor Publikum hoffentlich bald wieder möglich ist. Da sind wir vielleicht flexibler als die Kollegen in Wolfsburg.

Dirk Lattemann: Als Gastspielhaus finden bei uns keine künstlerischen Prozesse statt – abgesehen von unseren eigenen Inszenierungen zu Weihnachten und im Jugendtheater. Die Pandemie hat dazu geführt, dass wir jetzt also ein leeres Haus haben. Insofern hat Frau Schlingmann recht: Wir sind größtenteils abhängig von externen Produktionen und damit unflexibler. Aber ich will mir kein Urteil darüber anmaßen, was nun leichter ist. Es sind einfach komplett unterschiedliche Formen eines Theaterhauses.

Eine große Gemeinsamkeit gibt es in Ihrem Selbstverständnis: Sie, Frau Schlingmann, haben einen offenen Brief an die niedersächsische Politik unterschrieben, in dem Sie die Bedeutung des Theaters als Bildungseinrichtung für Kinder und Jugendliche hervorkehren. Und Sie, Herr Lattemann, schreiben in einem offenen Brief an das Wolfsburger Publikum, dass Sie sich als Bildungseinrichtung und keinesfalls als Freizeit-einrichtung definieren.

Dagmar Schlingmann: Theater ist immer unterhaltend, ganz egal, wie fordernd das Sujet auf der Bühne auch sein mag. Aber Theater geht weit über einen reinen Unterhaltungswert hinaus, denn es spielt eine wesentliche Rolle in der Gestaltung unseres Miteinanders: Es kann Fragen stellen, gesellschaftliche Prozesse sichtbar machen und Diskussionen anregen.

Dirk Lattemann: Vieles im vergangenen Jahr ging Schlag auf Schlag – und in einem dieser ersten Schläge wurden wir genau in diese Schublade gesteckt: Theater sind in gleicher Weise zu behandeln wie Freizeitparks. Da sehe ich uns aber ganz weit weg. Ich stimme mit Frau Schlingmann vollkommen überein: Theater ist ein wichtiger Ort, um Diskussionen zu führen, gleichzeitig muss Theater unterhaltend sein. Mein Eindruck ist, dass wir von der Politik gerne mal „unter ferner liefen“ wahrgenommen werden. Man sollte diskutieren dürfen, ob und inwiefern wir systemrelevant sind.

Dagmar Schlingmann: Ganz genau. Das Problem scheint zu sein, dass viele Politiker den Bereich Kultur nicht so relevant finden für ihr Selbstverständnis als Mandatsträger. Das ist schade, denn ohne Kultur als Überbau kann eine Gesellschaft nicht funktionieren.

Herr Lattemann, geht durch dieses mangelnde Verständnis der Politik und die daraus resultierenden Entscheidungen dem kulturellen Betrieb die junge Generation verloren?

Dirk Lattemann: Es gibt eine Künstlergruppe, die mir mehr Sorgen bereitet, und das sind Tänzer. Die müssen viel Zeit in ihre Ausbildung investieren, die Zeit, in der sie aktiv als Tänzer arbeiten können, ist sehr begrenzt – wenn man aus einer solchen Vita auch nur ein Jahr herausnimmt, dann wiegt das einfach schwerer als ein Jahr bei einem Schauspieler, der auch mit 70 noch spielen kann.

Frau Schlingmann, in Braunschweig ist das Tanz-Ensemble die einzige Gruppe, die auch im Lockdown probt. Hat diese Ausnahme mit den Schilderungen von Herrn Lattemann zu tun?

Dagmar Schlingmann: Ja. Es ist nicht nur wichtig, dass die Tänzerinnen und Tänzer weiter jeden Tag trainieren das könnten sie im Zweifel auch alleine. Die Gruppe ist hier noch stärker ausschlaggebend; Tanz läuft ohne Worte ab, also ganz unmittelbar. Da muss eine körperliche Harmonie zwischen den Tänzern herrschen und zu der kommt es nur, wenn sie gemeinsam trainieren – das sind Leistungssportler! Die Proben werden aber auch flankiert von regelmäßigen Corona-Tests, Abständen und teilweise sogar Masken beim Tanz.

Könnten durch die neuen Gegebenheiten beim Training wie etwa das Abstandhalten neue künstlerische Formate entstehen?

Dagmar Schlingmann: Wir haben in einigen Bereichen dazugelernt. Beim Tanz im Speziellen war ich sehr glücklich, dass wir mit „Die Zeit ist reif“ eine ganz besondere Inszenierung aufführen konnten: Das Tanzensemble hat in kleinen Gruppen und einzeln eine Art Parcours durch unser gesamtes Haus getanzt; ein unglaublich kreativer Ansatz, wie aus den Corona-Gegebenheiten etwas Neues entstehen kann. Und auch den neuen, unbekümmerten Umgang aller Sparten mit Film und digitalen Formaten sehe ich als tolle Entwicklung. Dafür haben wir jetzt auf unserer Website einen eigenen Ort eingerichtet, die Digitale Bühne.

Herr Lattemann, arbeiten Sie in Wolfsburg auch an neuen Formaten?

Dirk Lattemann: Da wir bis auf die besagten Ausnahmen nicht selbst künstlerisch arbeiten, betrifft uns das weniger – eigentlich. Denn mittlerweile beschäftigen wir uns damit, Inhalte selbst zu produzieren. Ich glaube, dass Corona den Theatern, die ja hauptsächlich analog arbeiten, einen großen Digitalisierungsschub gegeben hat.

Das klingt, als ob Sie damit auf Ihr eigenes Projekt anspielen. Können Sie schon etwas verraten?

Dirk Lattemann: Ein kleines bisschen: Wenn alles funktioniert, dann könnten wir im März oder April unserem Publikum zeigen, was wir vorbereitet haben. Dabei soll es Schnittstellen zwischen Analogem und Digitalem geben. Aber mehr verrate ich noch nicht!

Dieser Artikel erschien zuerst in der Stadtglanz Print-Ausgabe 18 / März 2021.

Johanna Feckl

Johanna Feckl, geboren 1989, hat Germanistik und Philosophie in München und Berlin studiert. Seit 2015 arbeitet sie als freie Journalistin unter anderem für die „Süddeutsche Zeitung“, die „Deutsche Presse-Agentur“ und andere. Meistens findet man sie in München oder in Braunschweig und sehr oft im Zug irgendwo dazwischen – manchmal sogar mit Fahrrad.

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