Wirtschaft
Silberquelle - Party im Pavillon seit 1949
Die Geschichte der Kneipe, des Kiosk und des Kiez
Von Claudia Gorille
Wie kann eine kleine Kneipe 75 Jahre lang angesagt sein? Wieso ist die Silberquelle am Kalenwall in Braunschweig wie manche sagen, eine „Kult-Kneipe“, manche behaupten der „beliebteste Club“ in der Stadt? Was zieht 18-Jährige und auch 80-Jährige an? Darüber habe ich angefangen zu grübeln, auch weil Freunde mir immer wieder diese Frage stellten. Ich bin die Tochter von Gertrud und Joachim Gorille, die am 4. Juni 1949 die Silberquelle eröffneten, und ich bin Journalistin, also habe ich mich auf Spurensuche begeben.
Eineinhalb Jahre habe ich recherchiert und viel Material gesichtet: Alte Akten zur Silberquelle aus den 1940er- und den folgenden Jahren, Geschäftstagebücher, Bilanzen, Fotoalben und insgesamt an die 400 Briefe, die sich Gertrud und Joachim Gorille seit 1942 geschrieben haben. Außerdem habe ich Gespräche mit Zeitzeugen und Gästen geführt, mich mit Stadtführern und Historikern getroffen, ich war in verschiedenen Archiven und Datenbanken unterwegs.
"Ein bemerkenswertes Buch, das es so noch nicht in der Braunschweig-Literatur-Landschaft gab: eine Familien-Geschichte als Stadt-Geschichte rund um einen Erlebnisort im Zeitenstrom von Braunschweigs Nachkriegsgeschichte bis in die Gegenwart. Die Autorin ist dicht dran an den handelnden Personen und bietet außergewöhnliche Fotodokumente aus dem Familienbesitz.“
Dr. Uwe Day, Historiker und Journalist.
Verlag: Andreas Reiffer
Einband: Gebunden
ISBN-13: 9783910335493
Bestellnummer: 11702132
Umfang: 144 Seiten, viele Fotografien und Dokumente
Erschienen: 28.5.2024
Als Autorin versuche ich eine gewisse Distanz zur Familiengeschichte zu wahren. Ich schreibe in der Regel nicht „meine Mutter“ oder „mein Vater“, sondern Gertrud und Joachim Gorille. Das ermöglicht es mir, sie gewissermaßen zu beobachten. Im Blick hatte ich auch das Bahnhofsviertel, das sich über die Jahrzehnte stark veränderte, ich bin der Frage nachgegangen, welchen Einfluss das auf die Silberquelle hatte.
Wie alles anfängt? Gertud (24 Jahre) und Joachim (29 Jahre) Gorille fliehen unmittelbar nach dem Krieg aus Berlin, sie haben wie viele andere auch, Angst „vor den Russen“. Sie wollen nach Hamburg, bleiben aber in Braunschweig „hängen“. Sie sind erschöpft, sie mussten viel zu Fuß gehen, die Bahnstrecken sind zerstört, außerdem haben sie kein Geld mehr. Sie finden Arbeit im Kaffee Korso.
Beim Kellnern hat Joachim Gorille einen Geistesblitz („Essen und trinken müssen die Menschen immer!“) und aus dieser banalen Erkenntnis leitet er seine Geschäftsidee ab: einen Schnellimbiss. Sie sparen, geben einen Verkaufsstand aus Holz in Auftrag und eröffnen ihn schon am 1.11.1945 vor dem ehemaligen Luftschutzbunker am Kalenwall. Direkt gegenüber liegt der Hauptbahnhof, es kommen dort viele Menschen vorbei.
Auf der Speisekarte stehen: Kaffee, Fleischbrühe, Limonade, warme Bockwurst, Garnierte Wurstplatte mit kleinen Delikatessen, Brot mit Aufschnitt, Käse-Brot, Delikatess-Brötchen, Butterbrot, Scheibe Brot, Brötchen, Portion Butter. Der Imbiss läuft erfolgreich und das Ehepaar Gorille möchte vier Jahre später neben dem Bunker einen größeren Imbiss eröffnen.
Die Stadt ist strikt dagegen und erteilt keine Baugenehmigung – bis der Architekt Heinz-Willi Jüngst eine Zeichnung mit einem zehneckigen Pavillon aus Aluminium vorlegt. Aluminium gilt nach dem Krieg als Werkstoff der Modernen. Der Pavillon ist eines der ersten Gebäude aus Aluminium und heute wahrscheinlich eines der letzten in Braunschweig.
Die Eröffnung am 4.6.1949 gerät zu einem kleinen Ereignis in der Stadt. Joachim Gorille hat für den Namen des Pavillons ein Preisausschreiben initiiert, das die Presse intensiv begleitet, der Name und die Gewinner sollen an diesem Pfingstsamstag bekannt gegeben werden. Von früh bis spät ist der Pavillon von Schaulustigen umlagert.
Anfangs gibt es nur den Kiosk. Knapp ein Jahr später wird die 33 Quadratmeter große Innenfläche geteilt. Der Raum hinten wird Silberstube genannt. – Die original Schilder zieren noch heute den Eingang! - Vorn zum Kalenwall hin bleibt es beim Imbiss und kleinem Kiosk mit großem Angebot, legendär: gegrillte Bratwurst Thüringer Art.
Der Standort der Silberquelle ist ideal, aber 1960 wird der Bahnhof geschlossen. Damit versiegt der Strom der Fußgänger, die Laufkundschaft fällt weg. Nicht nur die Silberquelle verzeichnet finanzielle Einbußen, das ganze Viertel verändert sich. Eben noch angesagt, jetzt abgehängt. Die Friedrich-Wilhelm-Straße mutiert von der Prachtallee zur Schmuddelmeile.
Die Geschäfte und Gaststätten rund um die Silberquelle wechseln im Laufe der Jahrzehnte immer wieder Namen, Aussehen und Besitzer. Die Silberquelle aber ist eine Konstante im sogenannten Kultviertel. Gespräche mit Zeitzeugen sowie heutigen jungen und alten Silberquelle-Fans geben Hinweise darauf, woran das liegen könnte. Verkürzt zusammengefasst: es geht um die Bedürfnisse der Gäste, die damals andere waren als heute, aber eine Gemeinsamkeit teilen: der Wunsch nach kleinen Fluchten aus dem Alltag und die ermöglichen die Silberquelle, genauer gesagt, die Gastgeber seit 75 Jahren.
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