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Wirtschaft

17. November 2022

Das Braunschweig-Wolfsburg-Sofa

Design in der Region

(Fotografie: Andreas Rudolph)

Welche Rolle spielen Kunst und Design als Standortfaktoren und als Aspekte regionaler Identität?

Für diese Fragen traf STADTGLANZ Holger Stoye, Geschäftsführer der Wolfsburg Wirtschaft und Marketing GmbH und Gerold Leppa, Geschäftsführer der Braunschweig Zukunft GmbH, Bernd Rodrian, Leiter des Institut Heidersberger Wolfsburg, und Dr.-Ing. Gerhard Glatzel, Professor für Industriedesign an der Hochschule für Bildende Künste HBK Braunschweig auf dem STADTGLANZ-Sofa.

Braunschweig und Wolfsburg sind nicht nur bedeutende deutsche Wirtschafts- und Wissenschaftsstandorte, sondern auch eine Hochburg von Kunst und Design. Was macht die Region heute so attraktiv für Künstler und Designer?

GL: Braunschweig ist mit der einzigen Hochschule für Bildende Künste in Niedersachsen ein Zentrum und Anlaufpunkt für Kunstschaffende, zahlreiche junge Leute erhalten hier ihre Ausbildung. Viele von ihnen sind in Stadt und Region geblieben, haben sich als Künstler, mit Agenturen oder als Designer selbständig gemacht. So treffen Kulturschaffende hier auf Gleichgesinnte, mit denen sie sich austauschen können. Kreativität lebt ja auch von der gegenseitigen Inspiration. Zudem fördert der Verein KreativRegion die Vernetzung der Kultur- und Kreativwirtschaft und bietet eine zentrale Plattform, sodass die verschiedenen Akteure hier schnell Anschluss finden. Nicht zu vergessen aber auch das gewachsene Umfeld mit hoch­karätigen Einrichtungen wie Museen und Theatern.

HS: Unsere Region bedient verschiedene Ansprüche sehr gut. Wer sich als Designer an anderen messen und beruflich wachsen möchte, ist hier sehr gut auf­gehoben. In Wolfsburg gibt es für Kreative neben Volks­wagen weitere extrem spannende Unternehmen, wie z. B. Volke. Und auch über die Agenturenvielfalt hinaus gibt es hochkarätige Angebote. Wolfsburg ist sicher eine kleinere, aber dafür feine Adresse für Kunst­schaffende. Bis heute finden sich immer wieder Budgets, um Ausstellungen, Experimentelles und Kreatives entstehen zu lassen. Künstler sind sehr gerne gesehen und werden gesellschaftlich beachtet. Das ist nicht immer selbstverständlich in deutschen Regionen.

GG: Aus Sicht der Studierenden der Freien Kunst bietet die Region BS/WOB viel Freiraum zur persönlichen Entwicklung ohne störende Einflüsse durch einen überhitzten Kunstmarkt, die Zusammenarbeit mit den Museen und Kunstvereinen der Region gibt viele Anregungen und Feedback. Für Absolventinnen und Absolventen der Studiengänge Design in der digitalen Gesellschaft und Transformation Design gibt es viele interessante Arbeit- und Auftraggeber; gleiches gilt auch für diejenigen, die Visuelle Kommunikation studiert haben. Die Verbindung von Freier Kunst, Kunst- und Medienwissenschaft und Design an einer Hochschule schafft enorme Möglichkeiten der gegenseitigen Bereicherung und Verstärkung. Das ist wie der Übergang von einer auf drei Dimensionen. Diese Vielfalt ist allerdings nicht immer reibungsfrei, erfordert Kom­promissfähigkeit von den Beteiligten und muss klug gemanagt werden.

BR: Heute spielt es weniger eine Rolle, wo man arbeitet, sondern vielmehr, welche Lebensqualität bekomme ich wo geboten. Darüber hinaus ist eine gute verkehrstechnische Anbindung sehr günstig, so lohnt sich für viele ein Zwischenstopp bzw. man hat kurze Wege in andere Metropolen.

In Braunschweig hat Kunst eine lange Tradition. Zum Beispiel ist das 1754 gegründete Herzog Anton Ulrich-Museum das älteste, öffentlich zugängliche Museum Deutschlands. Wolfsburg ist im Vergleich zu Braunschweig zwar eine sehr junge Stadt, aber auch hier spielte die Kunst von Anfang an eine große Rolle und prägt das Stadtbild bis heute wesentlich mit. Wie sehr hat aus Ihrer Sicht die Kunst zur Identität der beiden Städte beigetragen?

BR: Wolfsburg hatte schon Ende der 1950er-Jahre, also mit gerade mal zwanzig Jahren, erkannt, dass Kultur und Kunst eine wichtige Rolle im gesellschaftlichen Leben spielen. Aus dieser Initiative folgten die Städtische Galerie und der Kunstverein Wolfsburg und es wurden Künstler eingeladen, im Wolfsburger Schloss Ateliers zu beziehen. Einer dieser Künstler war Heinrich Heidersberger, dessen Vermächtnis heute im Institut Heidersberger weiterlebt. Über Braunschweig, wo er zuvor lebte, und über Wolfsburg brachte er jeweils Bildbände heraus. Seine Bilder wirken, gerade in Wolfsburg, bis heute und tragen maßgeblich zum Selbstverständnis der Stadt bei.

GL: In Braunschweig hat die Kunst definitiv die Identität der Stadt spürbar geprägt. Herzog Carl I. war mit der Einrichtung des ersten öffent­lichen zugänglichen Museums Deutschlands ja ein Vorreiter der Kunst­vermittlung. Aber auch im kirchlichen und später auch im bürgerlichen Bereich wurde natürlich Kunst gefördert und gesammelt. Nach und nach gewann Braunschweig weitere Kunsteinrichtungen hinzu, und heute haben wir mit der Hochschule für Bildende Künste, dem Kunstverein und weiteren Museen und Initiativen eine Vielzahl von Orten, an denen Kunst gelebt und erlebbar wird. Einer der Höhepunkte ist zudem der Lichtparcours, der nun schon seit vielen Jahren die Menschen begeistert und dabei auch touristische Potenz erreicht hat. Beliebt ist in Braunschweig aber auch die niedrigschwellige Kunst im öffentlichen Raum, wie wir erst in diesem Sommer wieder an der erneut großen Resonanz auf die „Alltagsmenschen“ von Christel Lechner sehen konnten.

Wie positioniert sich das Institut Heidersberger im Kunst­angebot der Region?

BR: Heinrich Heidersberger kam Ende der 1930er-Jahre in die Region. Bis zu seinem Tod im Jahre 2006 lebte er in Salzgitter, Braunschweig und Wolfsburg. Sein umfangreiches Werk spiegelt die Region wider, sei es das zerstörte Braunschweig, die Architektur der 1950er-Jahre oder die Moderne des jungen Wolfsburgs. Folglich realisieren und beteiligen wir uns heute an Projekten innerhalb der Region. Als kultureller Botschafter sind wir aber auch national und international tätig, dieses Jahr haben wir z. B. schon in Japan und Kuba ausgestellt.

Dass die zahlreichen Museen der Region wesentlich zur touri­stischen Attraktivität der beiden Städte beitragen, ist offensichtlich. Gibt es darüber hinaus auch Aspekte, unter denen die Museumsdichte aus unternehmerischer Sicht einen Standortvorteil ergibt?

GG: Ich bin zuversichtlich, dass sich allmählich bei den Wirtschafts­unternehmen der Region die Erkenntnis durchsetzt, dass kulturelle Vielfalt auf hohem Niveau helfen kann, Unternehmenskulturen weiterzuentwickeln. Kunst und Design sind nicht zur Dekoration von Macht und zu repräsen­tativen Zwecken da. Kunst und Design können gesellschaftliche Veränderungsprozesse reflektieren, anstoßen und begleiten. Und wir haben mit dem Transformation-Design einen passenden transdisziplinären Masterstudiengang.

BR: Für Unternehmen ist es sehr von Vorteil, wenn es eine hohe Bildungs- und Kulturdichte in der Region gibt. Dies steigert u.a. deren Attraktivität und führt schließlich zur Ansiedlung hoch qualifizierter Mitarbeiter. Schon in den 1950er-Jahren hatten dies die Verantwortlichen bei Volkswagen erkannt, als sie bedeutende Kunst­ausstellungen nach Wolfsburg holten, wie etwa Lovis Corinth, Picasso und Van Gogh. Dies führte letztlich dazu, dass in Wolfsburg das Kunstmuseum gebaut wurde.

Design hat in der Region zwar keine vergleichbar lange Geschichte wie die Kunst, ist aber dennoch zu einem interessanten Wirtschaftsfaktor der beiden Städte geworden, wie sich unter anderem an der hohen Agenturdichte und der herausragenden Bedeutung der HBK zeigt. Ist dieses kreative Umfeld aus Ihrer Sicht ein Standortvorteil für Unternehmen, die sich in der Region ansiedeln wollen?

GG: In einem rohstoffarmen Hochlohnland sind Kreativität, Ideenreichtum, Fantasie und Findigkeit zusammen mit exzellenter Ausbildung und Bildung DIE entscheidenden Faktoren für erfolgreiches Unternehmertum – also ganz klar JA! Man kann zwar nicht Nichtgestalten – Gestaltung gab es immer, aber das Design als wissenschaftliches Fach ist noch sehr jung und verglichen mit der Architektur bestenfalls in der Pubertät. Neben der Gestaltung von Veränderungsprozessen ist mit einem entsprechenden Bachelor-Studiengang die Digitalisierung ein wichtiger Lehr- und Forschungsschwerpunkt des Designs. Design meint hier nicht „hübsch und bunt“, es konzipiert und gestaltet unseren Umgang mit der Zweiten Digitalen Revolution mit Mitteln der Designforschung, der Sozialwissenschaft und der Ingenieurwissenschaft. Auch gilt, dass Freie Kunst und Design keinen Alleinanspruch auf Kreativität haben, andere Disziplinen sind da ähnlich leistungsfähig. Auch deshalb arbeiten wir gerne und erfolgreich mit der TU, der Ostfalia, Forschungseinrichtungen wie dem DLR und Unternehmen zusammen.

Welche Bedeutung hat insbesondere die Ausbildung im Industriedesign an der HBK für den Designbedarf in der Region? Orientiert sich die Ausbildung am Bedarf der Unternehmen hier vor Ort?

GG: Wenn wir uns nur am aktuellen Bedarf orientierten, würden wir ständig hinterherhinken; unsere aktuellen Studienanfänger werden in frühestens drei Jahren im Arbeitsmarkt auftauchen und vielleicht in zehn Jahren ihrer größten Leistungsfähigkeit nahekommen. Das, was wir jetzt vermitteln, muss über die genannten Zeiträume hinausreichen. Ein Beispiel: 2007 haben nur Wenige die Auswirkungen und Potenziale der Digitalisierung bedacht, jetzt reden wir von der Digitalen Revolution 2.0 beziehungsweise der vierten Industriellen Revolution und deren gravierenden Auswirkungen auf die Wirtschaft und unser tägliches Leben. Eine der großen Stärken des Designs ist die Möglichkeit, längerfristige Entwicklungen vorwegzunehmen. Konsequenterweise vermitteln wir neben dem designerischen Handwerkszeug wissenschaftliches Kristallkugelgucken und auch die notwendigen Grundlagen, die sich ziemlich sicher nicht ändern werden. Deshalb kriegen unsere Design-Studierenden eine ordentliche Portion Soziologie, Psychologie, Naturwissenschaften und Ingenieurwissenschaften ab und sind damit fit für zukünftige Entwicklungen. Unsere Forschung liefert die dazu notwendige Theorie und Zusammenhänge.

Design ist eher auf den Massenmarkt ausgerichtet, Kunst eher auf Unikate oder zumindest begrenzte Auflagen. Ergibt sich daraus ein Unterschied in den Sicht- und Herangehensweisen von Künstlern und Designern?

GG: In beiden Studiengängen spielen die jeweiligen Produktionsprozesse eine Rolle, machen aber eher nicht die Unterschiede zwischen Design und Freier Kunst aus, diese zeigen sich in der Art der Lehrveranstaltungen und deren Organisation, wobei das Design nicht einheitlich ist. Lehrveranstaltungen der Freien Kunst und der Visuellen Kommunikation (ehemals Kommunikationsdesign) sind in Klassen bzw. Studios organisiert, Studierende des Designs in der digitalen Gesellschaft und des Transformation Designs besuchen Vorlesungen, Seminare und Übungen und arbeiten in fort­geschrittenen Studiensemestern in angeleiteten Projekten. In der Freien Kunst geht es um einen Persönlichkeitsentwicklung mit enger Bindung an einen Professor, das (Industrie-)Design vermittelt wissenschaftliche Kenntnisse und Fähigkeiten. Die Arbeitsweisen in Projekten können jedoch sehr ähnlich sein, Freie Künstler arbeiten durchaus systematisch und grundlagenorientiert, Designer intuitiv.

BR: Ein entscheidender Unterschied ist, dass ein Designer meist mit Auftrag an die Arbeit geht und es sich um Produkte für einen breiteren Markt handelt. Kunst handelt oft freier und ohne Auftrag bzw. ohne den Anspruch zu haben, verkäuflich zu sein.

Wie verwandt sind Kunst und Design? Sind Künstler auch gute Designer? Und umgekehrt: Ist ein Designer auch ein potenzieller Künstler?

GG: Künstler und Designer haben vieles gemeinsam, da man aber noch nicht einmal von EINEM Design sprechen kann, gibt es wohl eher eine gegenseitige Ergänzung. Tatsächlich haben wir Studierende, die beide Fächer – oder ein anderes Fach der HBK – nacheinander oder parallel studieren; das zeigt, dass die Unterschiede wohl überwiegen.

BR: Meiner Meinung nach sind die Übergänge fließend und manchmal schwer zu differenzieren. Zudem beeinflussen sich Design und Kunst gegenseitig, was sehr befruchtend sein kann.

Die Ausbildung von Künstlern und Designern in der Region hat einen sehr guten Ruf weit über die Region hinaus, wie sich auch an den Studentenzahlen zeigt. Wenn junge Menschen Kunst oder Design studieren wollen – kann man ihnen dann heute dazu raten und was sollten sie bei ihrer Entscheidung berücksichtigen? Worauf sollten sie sich einstellen? Wie sind die Berufsaussichten in der Region?

GG: Grundsätzlich und für jedes Fach gilt, dass sich ein/e Studienanfänger/in für das Fach entscheiden sollte, für das sie/er brennt. Das gilt unbedingt für die Freie Kunst und auch für das Design. Für unsere Hochschule und unseren Ruf gilt, dass wir an der Verbesserung ständig arbeiten sollten.

Es gibt unter Designern und Künstlern ja auch zahlreiche Autodidakten. Wie schwer ist es für diese, im Kunstbetrieb oder im Designjob Fuß zu fassen und erfolgreich zu sein?

GG: Autodidakten gibt es in diesen Feldern heute kaum noch. Das ist ein Mythos. Es gibt kaum härtere Berufe als diese. In der Kunst sind es nach wie vor nur die Wenigsten, die von ihrer Kunst leben können. Das ist eher ein Spiel mit Wahrscheinlichkeiten für beruflichen Erfolg: die Aussichten steigen mit der Qualität der Bildung und Ausbildung. In beiden Bereichen muss ein Akteur sehr viel wissen und können, Disziplin mitbringen und ein exzellentes soziales Netzwerk aufbauen.

BR: Autodidakten haben es immer schwieriger als Akademiker. Meist ist es eine Typfrage bzw. eine Frage des Selbstvertrauens. Heinrich Heiders­berger war als Autodidakt recht erfolgreich. Das lag vor allem an seinem unbedingten Willen den Dingen auf den Grund zu gehen. Oft war für ihn der Weg das Ziel. Ausgehend von einer konkreten Idee seinen Wissensdurst zu stillen und die Bildidee umzusetzen. Ein gutes Beispiel sind seine Lichtspurbilder, die er Rhythmogramme nannte. Die Maschine, die er hierzu konstruierte, ist das fast beeindruckendere Werk. An ihr kann man eine ganz eigene Konstruktions- und Materialsprache ablesen, die häufig in seinen Konstruktionen auftaucht.

Wie wir eingangs schon festgestellt haben, sind Kunst und Design in der Region sehr präsent. Gibt es dennoch Facetten, die noch fehlen und für die Braunschweig und Wolfsburg noch einen Nachhol­bedarf haben?

GG: Wir leben in einer der forschungsstärksten Regionen mit dem Schwerpunkt Mobilität. In der Gestaltung von Mobilität gibt es hier noch sowohl auf der Angebots- wie auch der Nachfrageseite phantastische Entwicklungspotenziale. Transdis­ziplinäre Kooperation – also die sich gegenseitig beeinflussende Zusammenarbeit für sich starker Partner – wird deutlich zunehmen müssen. Die HBK ist dafür ein recht gutes Experimentierfeld.

BR: Fotografie hat in der Region einen hohen Stellenwert und durch Firmen wie Rollei und Voigtländer eine wichtige Technikgeschichte. Ausstellungen mit Fotografie haben hier immer eine gute Resonanz und zudem brachte die Region auch etablierte Fotografen wie Peter Bialobrzeski, Sascha Weidner oder Heinrich Heidersberger hervor. Mehr Aktivität im Bereich der Fotografie könnte die Region sichtbarer machen, an einigen Ideen arbeiten wir gerade.

Lieber Herr Glatzel, Herr Leppa, Herr Rodrian und Herr Stoye, vielen Dank für das Gespräch.

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