Kultur
Srba Dinić
Kosmopolit in Braunschweig
Von Dr. Paul-Frank Weise
Wer ist Srba Dinić? Die Braunschweiger haben ihn seit 2017 als Generalmusikdirektor des Staatstheaters Braunschweig und als Chefdirigenten des Staatsorchesters Braunschweig kennen und lieben gelernt. Ann Claire Richter hat im Februar 2023 in der Braunschweiger Zeitung ein ganz besonderes und spannendes Portrait des Menschen und des Dirigenten Srba Dinić gezeichnet. Zum künstlerischen Credo und zur künstliche Positionierung des Dirigenten sei die Lektüre des im Monatsmagazin für Konzert- und Opernbesucher www.concerti.de von André Sperber Ausgabe August 2023 erschienenen Interviews empfohlen, ebenso wie das als Video veröffentlichte und von Dr. Sven-David Müller im Dezember 2020 geführte Interview „Der Kultur Talk #2“ https://www.hausdermusik-braunschweig.de/post/kultur-talk-2-mit-srba-Dinić. Ich habe Srba Dinićs Weg ab 2015/2016 mitverfolgen können. An den in Braunschweig seit mittlerweile über 7 Jahren tätigen Dirigenten und Kosmopoliten Srba Dinić ergeben sich für die Leser des Stadtglanz-Magazins aus dieser Perspektive ein paar Fragen.
Es mag über 6 Jahre her sein. Erinnerst Du Dich an den gemeinsamen Besuch eines Fußballspiels?
Ja, ich erinnere mich sehr gut. Der erste Gedanke, der in meinem Kopf war, dass dieser Club genauso eine starke Tradition hat wie die ganze Stadt und dass schon in früheren Jahren ein paar sehr bekannte damalige Landsleute von mir da gespielt (z.B. Danilo Popivoda), beziehungsweise trainiert (Branco Zebec) haben und ich fand, dass die Fans natürlich sehr gut waren, die das Ganze sehr gut organisiert haben. [Nach kurzer Pause freundlich lachend in der ihm eigenen sonoren Stimmlage …] Aber leider hat Braunschweig verloren.
Wer liebt, lacht doch. Die Stadt steht dazu, notfalls auch in zweiter oder gar dritter Liga. Wie empfindest du die Positionierung der Stadt zu Euch, dem Staatsorchester? Ihr seid nicht in der zweiten Liga, sondern wo steht Ihr?
Nein, wir spielen in der ersten Liga, wir spielen Bundesliga. Wir spielen nicht in der Champions League, was verschiedene Gründe hat. Natürlich wollen wir nicht arrogant sein, es gibt so viele großartige Orchester in Deutschland, beginnend mit den Berliner Philharmonikern, mit der Staatskapelle Dresden, Münchner Philharmoniker, viele, viele großartige Orchester, aber ich denke, dass wir ganz stolz sagen können, dass wir ganz oben stehen, dass dieses Orchester fast 440 Jahre alt ist, das drittälteste Orchester Deutschlands, was auch viel über diese Stadt sagt, über die Kultur dieser Stadt. Man weiß, dass hier Lessing war, dass sogar Goethe hier war, dass Louis Spohr hier war, wir haben sogar im Theater einen Louis-Spohr-Saal. Es sind viele Kulturträger und Künstler, die dieser Stadt einen Stempel gegeben haben und wir versuchen nur, diese 400-jährige Tradition weiterzumachen und wir bemühen uns, dass unsere Auftritte, egal, wo wir auftreten, was wir spielen, welche Musik wir machen, ob das jetzt Opernproduktionen, Ballett, Cross Over, Sinfoniekonzerte oder Gastspiele sind, die Stadt und das Staatsorchester wirklich auf die beste Art und Weise zu präsentieren.
In diesen über 400 Jahren war das Orchester nicht immer ein A-Orchester. Ist dieser Status zuletzt unter Stefan Soltész erreicht worden?
Ja, das ist richtig, Meister Soltész ist maßgeblich mitverantwortlich dafür. Er hat mit Erfolg sehr dafür gekämpft, dass dieses Orchester in den 1980er-Jahren einen A-Status bekommen hat.
Eintracht Braunschweig ist keine 400 Jahre halt, war aber immerhin Gründungsmitglied der Fußball-Bundesliga und auch mal Deutscher Meister. In Braunschweig ist seit über hundert Jahren Fußballgeschichte geschrieben worden. Und doch kam dann irgendwann mal der Abstieg von der Erstklassigkeit. Wie siehst Du es bei der Zukunft des Staatsorchesters? Könnte es auch mal absteigen?
Das hoffen wir nicht und das wollen wir ganz bestimmt nicht.
Was müssen wir tun?
Was man tun muss, ist das Orchester immer zu unterstützen. Wir werden getragen vom Land und der Stadt und verspüren zum Glück großen Rückhalt in der Politik, ob aus Hannover oder aus Braunschweig. Aber es ist so, dass ich manchmal denke, dass es Erklärungsbedarf gibt, dass den vielen Menschen in Braunschweig noch nicht bewusst ist, was für ein großartiges Orchester Braunschweig hat. Wir haben das oft bewiesen und solange die Bedingungen so sind, wie mindestens jetzt, spielen wir auf hohem Niveau weiter.
Das klingt, als gäbe es gute Reserven im Bereich Marketing. Du kommst in der Welt herum. Du sprichst über sieben Sprachen und liest die Literatur am liebsten jeweils in der Originalsprache. Du warst in frühen Jahren nach dem Verlassen Deiner Heimatstadt zum Studium und zur Ausbildung in Belgrad, dann Stationen unter anderem in Basel, Bern, in Südamerika, in ganz Europa, deutsche Spielstätten, Asien, Amerika, eigentlich überall. Du absolvierst darüber hinaus ein beeindruckendes Programm an Gastspielen auch in sehr verschiedenen Ländern. Du und Deine Frau, Ihr hättet Euch anlässlich der Familiengründung um Haaresbreite nicht in der Schweiz, sondern in Neuseeland niedergelassen. Kann man Dich als Kosmopoliten bezeichnen?
Zumindest sehe ich mich so. Ich denke, das ist etwas, was ich sehr schätze. Das ist etwas, worauf ich sehr stolz bin. Ich bin im damaligen Jugoslawien geboren, in Serbien geboren. Und wenn man dann die Gelegenheit bekommt, durch seinen Beruf oder auch privat viel zu reisen, viele interessante Menschen weltweit kennen zu lernen und viele Sprachen zu sprechen, auch Musik zu machen, dann ist es das, was ich sehr sehr schätze. Ich kann mich immer noch als Serbe deklarieren, aber ich bin so stolz, dass ich ein Mensch bin, der fast die ganze Welt gesehen hat. Unser Planet ist so reich und es gibt so viele wunderbare Dinge zu sehen. Ich fände es so schade, wenn man nur in seinem Dorf, in seiner Stadt, in seinem Bundesland begrenzt ist oder zumacht und nicht guckt, was für wunderschöne Sachen man machen kann.
Das sind beeindruckende Worte. Welchem Umstand haben wir es zu verdanken, dass ein Kosmopolit, der in vielen Teil der Welt zu Hause ist, der gewohnt ist in großen Spielstätten in Mexiko, Buenos Aires, in Italien, in der Schweiz, in Hamburg, München, Dresden und vielen Kontinenten aufzutreten und dort Engagements erhält, irgendwann einmal seinen Fuß nach Braunschweig gesetzt hat?
Das ist eine sehr interessante Frage. Da muss ich ehrlich sagen, ich habe schon mehrmals erzählt, wie ich nach Braunschweig gekommen bin. Es kam eine Einladung von Martin Weller und vom Orchestervorstand. Was mich aber eigentlich fasziniert hat, war nicht die Einladung, sondern als ich das erste Mal in Braunschweig war. Das war sehr interessant. Ich war eingeladen zur Premiere von La Traviata. Wenn ich mich nicht täusche, war das 2013 oder 2014, auf dem Burgplatz bei wunderschönem Wetter, und nicht zuletzt, dass ich einen Kommilitonen aus frühen Tagen wiedergetroffen habe, den ich über 20 Jahre nicht gesehen hatte – Josef Ziga. Dieser Abend hat mir wahnsinnig gut gefallen.
Was hat Dich genau fasziniert?
Wenn man mich vorher nach Braunschweig gefragt hätte, hätte ich gesagt, ich muss auf der Landkarte suchen, wo Braunschweig ist. Danach aber habe ich gesagt – Moment mal – die Geschichte dieser Stadt, die Tradition, das Orchester, das Theater, die Leute, die Freundlichkeit, all das hat mich fasziniert an diesem Tag. Und ab dem Abend habe ich Braunschweig mit anderen Augen gesehen. Und dann habe ich ein Angebot bekommen, ob ich die Stelle annehmen werde, da habe ich wirklich nicht gezögert. Ja, Braunschweig finde ich interessant. Das war meine erste Begegnung mit Braunschweig.
Das hört der Braunschweiger gern. Diese erste Begegnung liegt nun schon über 10 Jahre zurück. Seit mittlerweile sieben Jahren bist du hier fest engagiert und als Chefdirigent und GMD tätig. Wenn man sich die Amtszeiten Deiner Vorgänger anschaut, dann gab es deutlich kürzere Amtszeiten, aber manche haben das Orchester auch sehr lange geleitet. Was müsste Braunschweig oder das Land tun und welche Bedingungen müssten erfüllt sein, um Srba Dinić eventuell auch für eine weitere Amtszeit hinaus am Staatstheater und im Staatsorchester in der Stadt binden zu können?
Es gibt zwei Linien, über die man sprechen kann. Über den Vertrag als GMD bin ich zufrieden, da braucht man nicht mehr. Was mich wahnsinnig freuen würde, wenn das Orchester immer wieder Anerkennung bekommt, für das, was sie tun und wenn wir größer werden. Ich weiß, dass das schwierig ist – denn jeder spricht darüber, dass die Orchester weltweit verkleinert werden sollen. Ich bin absolut anderer Meinung, denn ohne Kultur sind wir auch nichts.
Der Status eines A-Orchesters hängt nach einer Tarifvertragsdefinition insbesondere von der Anzahl der Planstellen ab. Dann korrespondieren Größe und Qualität miteinander?
Dieses Orchester leistet sehr viel. Die Mitglieder des Orchesters haben sehr viele Aufgaben und sie könnten noch mehr Aufgaben übernehmen, wenn wir größer wären. Das wäre super. Auf der anderen Seite finde ich, dass Braunschweig mit seiner Tradition sich auch verdient hat, vielleicht eine Orchesterakademie zu haben, wo man junge Leute vorbereiten könnte, eines Tages bei uns zu spielen. Das ist etwas, wo ich noch sehr träumerisch und utopistisch denke, aber nichts ist unmöglich.
Solchen Ansprüchen sollten wir uns stellen. Aber fehlt es zurzeit nicht sogar an einer oder mehreren angemessenen Spielstätten?
Das ist eine sehr lange und traurige Geschichte. Aber es ist manchmal erstaunlich, was wir unter welchen Bedingungen leisten. Da bin ich sehr stolz auf mein Orchester, das muss ich ganz ehrlich sagen. Viele Orchester haben bessere Bedingungen als wir. Das ist jetzt keine Kritik, das ist nur eine Aussage. Ich hoffe, dass die Stadthalle sehr schnell renoviert wird, und dass wir die Pläne mit einer Musikschule und mit dem neuen Konzertsaal und einer Spielstätte zügig und so schnell wie möglich in Gang bringen. Das ist wichtig für eine zukünftige Ausrichtung. Ich habe heute meine erste Orchesterprobe für die 5. Sinfonie von Gustav Mahler gehabt und man sieht, wie viele Vollblutmusiker da sitzen und auf welchem Niveau sie spielen können. Schon bei der ersten Probe merkte ich, wie wichtig es ihnen ist, diese Art von Stücken zu spielen. Aber um eben solche Stücke zu spielen, braucht man absolut perfekte Bedingungen. Und das ist etwas, was mir in der Zukunft sehr wichtig wäre.
Stichwort Qualität und damit verbundene harte Arbeit. Ich erinnere mich an viele gute Inszenierungen. Unter anderem erinnere ich mich, als Ihr vor einigen Jahren Elektra von Richard Strauss vorbereitet habt. Ihr hattet da auch sehr gute Gastkünstler im Ensemble, wie etwa Maida Hundeling. Wir verabschiedeten uns nach einem Treffen und Du meintest, Du müsstest jetzt besonders hart arbeiten. Da gab es offenbar einen erheblichen Unterschied beim Schwierigkeitsgrad der Stücke und der Partitur. Die Partitur von Richard Strauss zu Elektra unterscheide sich deutlich von anderen Partituren. Es sei so, als müsse man ein Telefonbuch auswendig lernen. Habe ich das richtig in Erinnerung? Ist es richtig, dass ein Orchesterensemble bei solchen Stücken besonders gefordert ist und hier die Mittel und Ressourcen von der Qualität eines A-Orchesters benötigt, um solche Ansprüche zur Befriedigung des Publikums gut meistern zu können?
Ja, selbstverständlich. Richard Strauss hat bestimmte Stücke auch für TOP-Orchester komponiert, für Berlin, für München, für Wien. Das ist eine interessante Sache, dass Meister Denhoff, mein Konzertmeister, der über 37 Jahre im Orchester war, Elektra zuvor noch nie gespielt hatte. Elektra lief über 46 Jahre in Braunschweig nicht. Das heißt, für alle, inklusive mich, war das Stück komplett neu. Ich habe das Stück damals in Bern, bzw. in Basel korrepetiert, wo ich Korrepetitor war. Aber zu dirigieren, das war auch für mich eine neue Sache. Da mache ich jetzt keine Übertreibung. Wenn man eine Partitur von Richard Strauss ansieht, dann kann man sich gut vorstellen, welche Anstrengung es für das Gehirn ist, alle Noten, alle Zeichen, alles das zu lernen. Und wenn man das einmal gelernt hat, muss man das auch in Musik umsetzen und daraus eine Interpretation machen. Und aus diesem Grunde war ich natürlich - normalerweise bin ich nicht panisch – doch etwas angestrengt, denn es ist mir sehr bewusst, welche Verantwortung ein Dirigent hat, der so ein Stück dirigiert. Maida Hundeling war hier eine fantastische Sängerin, Edna Prochnik, Johanni von Oostrum, alle diese Sänger, die bei uns damals bei der Elektra-Produktion mitgemacht haben, das war ein Superteam, auch Regie und vor allem, worauf ich ganz stolz bin, ist, was für einen Applaus das Orchester am Ende bekommen hat und wie das Orchester dieses Stück gespielt hat. Das ist wieder ein Zeichen für die Qualität dieses Orchesters ins Braunschweig.
Das war nochmal sehr anschaulich und hilft zum Verständnis, was Euch als Top-Orchester und als Ensemble ausmacht und kennzeichnet. Kommen wir nochmal zum Thema Geschichte. Nach einer Deiner Elogen auf die besondere Geschichtsverankerung Braunschweigs, hatte ich Dich gefragt, wo kommst Du eigentlich genau her, aus Belgrad? Erinnerst du Dich?
Ja klar, da habe ich gesagt, nein, ich komme nicht aus Belgrad. Ich habe in Belgrad studiert, aber ich komme eigentlich aus der Provinz. Und diese Provinz, die jetzt serbische Provinz ist, war damals vor 2000 Jahren römische Provinz [ …lacht …]. Und worauf wir ganz stolz sind: In meiner Stadt – der heutige Name Niš leitet sich von ihrem römischen Namen Naissus ab - wurde Konstantin der Große geboren. In einem Stadtteil, der Mediana heißt, gibt es eine Ausgrabungsstätte mit Denkmal hierzu. Im Jahr 2013 gab es eine besondere Feier zum Gedenken, dass Kaiser Constantin vor weiter über 1000 Jahren das Christentum im Römischen Reich erlaubt hat. Es ist auch interessant, dass Heinrich der Löwe vermutlich im Jahr 1172 auf dem Weg nach Jerusalem über Konstantinopel entlang der vorherigen römischen Via Militaris durch Niš gezogen ist. Circa zehn Jahre später war Kaiser Friedrich Barbarossa auf dem Weg nach Jerusalem zu Gast bei dem seinerzeit ersten serbischen Fürsten, Stefan Nemanja, der Niš zu seiner Hauptstadt gemacht hatte. Man sieht, dass diese zwei Städte Niš und Braunschweig eine sehr lange Geschichte haben und das merkt man, wenn man in diese Städte kommt. Sie haben eine lange Geschichte. Man merkt es, wenn man in einer dieser Städte geboren ist.
Ich hatte das Glück, im Januar 2019 anlässlich einer sehr schönen Geburtstagsfeier bei Dir, diese Stadt kennenzulernen. Es hatte kräftig geschneit, die äußeren Bedingungen waren nicht einfach, aber beeindruckend. Erst da habe ich verstanden, was Du eben erzählt hast. Und ich konnte es auch an etwas Anderem festmachen. Du hattest eine Musikgruppe engagiert für die Feier und ein kleines urtümliches Restaurant gemietet. Was hast Du Dir bei der Auswahl des Restaurants und auch bei der Wahl dieser Musikgruppe gedacht?
Also dieser Geburtstag war etwas Besonderes, weil ich mit meinem allerbesten Freund gefeiert habe. Mein bester Freund ist international anerkannter Hämatologe an dem Karolinska-Institut in Stockholm. Wir sind gemeinsam groß geworden und da wir uns so selten sehen, haben wir entschieden, unseren 50. Geburtstag gemeinsam zu feiern. Und da wir Leute aus Schweden, Deutschland, Schweiz, Kroatien, Montenegro und von überall eingeladen haben, war es uns wichtig, dass sie diese Tradition kennenlernen, nicht nur die Geschichte, sondern auch die musikalische Tradition und die kulinarische Tradition. Wir haben uns sehr bemüht, dass das alles wirklich auch typisch, typisch, typisch nicht allein auf serbische Weise, sondern auf Niš und die Region bezogen stattfindet. Und ich denke, die Leute waren zufrieden...
Das war so. Wir kamen uns fast wie in einer anderen Welt vor, fast wie in Tausend und einer Nacht. Wir haben gefühlt und gemerkt, da unten ist ein Schmelztiegel. In Niš und der Region sind viele Ethnien und Kulturen vereint. Wenn aktuell in Deutschland, in Europa und in der Welt die Völkerwanderung und die Migration ein großes Thema ist, dann muss ich hierzu feststellen, dass dort bei Euch seit über 2000 Jahren unterschiedlichste Volksgruppen, Kulturen und Ethnien unterschiedlicher Herkunft in noch größerem Umfang als bei uns durchgezogen sind, hängengeblieben sind und viele davon auch aktuell zusammenleben.
Ja, wir leben zusammen und eine Sache darf man nicht vergessen. Nach dem Untergang des Oströmischen Reiches in Konstantinopel waren wir fast 500 Jahre Untertanen des Ottomanischen Imperiums. Nachdem wir in der Schlacht auf dem Amselfeld im Kosovo den Kampf verloren haben, kamen die Türken im 15. Jahrhundert nach Serbien. Die Geschichte kennt man. Sie kamen bis nach Wien. Bei uns sind sie geblieben bis 1876, in Niš noch länger. Das heißt, viele Familien, viele türkische Familien, die damals gelebt haben, sind nicht mit dem türkischen Militär zurück in die Türkei gezogen, sie sind einfach geblieben. Die waren in meiner Stadt geboren. Seit Generationen haben sie dort gelebt und haben gesagt, nein, wir gehen nicht zurück, wir bleiben da, wo wir sind. Natürlich gibt es sehr viele Römer oder auch Zigeuner - wenn man dieses Wort mit Achtung und Respekt verwenden darf. Es gab auch eine große jüdische Gemeinschaft, vor allem in Belgrad, aber in Niš auch Bulgaren, Rumänen, Muslime. Von daher sind es sehr viele Ethnien, die über hunderte Jahre zusammengelebt haben, und heutzutage immer noch zusammenleben. Und das finde ich vor allem bei all diesen Musikern, die an dem Abend zusammen waren.
Die Band der Black Mambas hat mich sehr beeindruckt. Eigentlich war das schon ein kleines Orchester. Wie setzten sie sich eigentlich zusammen?
Ja, das war ein Orchester, was damals sehr oft mit einem unserer bekanntesten Gipsy-Sänger, der diese traditionelle Musik aber auch ein bisschen mit Jazz gemischt gesungen hat – Charmo Miranovic. Wir waren seine Gruppe und alle waren ausgezeichnete Musiker. Viele von ihnen hatten keine musikalische Ausbildung, aber die sind einfach wahnsinnig begabt, die Zusammensetzung mit Trompete, Saxofon, Violine, Gitarre, Klaviatur, Schlagzeug, Gesang, das war typisch für diese Stadt, aber auch für diese Region. Und vor allem war uns wichtig, dass wir zeigen, dass mein Freund und ich anders denken als die Leute, die nationalistisch sind, die rassistisch sind. Wir haben gedacht, dass alle diese Leute an dem Abend zusammengehören, fröhlich, egal, woher sie kommen, ohne einen Unterschied, welche Religion sie haben, welche Ethnien sie sind...
Das kann ich bestätigen. Als Deine deutschen Gäste waren wir uns zunächst nicht sicher, ob wir dort als Fremdkörper wirkten. Waren wir kulturelle und gesellschaftliche Randfiguren? Aber wir haben schnell gespürt, es war eine leicht zu erschließende Offenheit und ein Zusammenhalt der Menschen auf der Feier. Es hat sich gelohnt, sich auf das authentische und leckere Essen, auf die Musik und auch auf die damit verbundenen Tanzformen einzulassen. Es war alles völlig anders als das, was wir gewohnt waren. Und doch fühlten wir uns auf Anhieb im besonderen Charakter von Niš zu Hause. Möglicherweise ein Wohlfühlen auf Anhieb, wie bei Deinem geschilderten ersten Besuch in Braunschweig. Nur dort fühlte man sogar 2000 Jahre Geschichte.
…Dinić lacht…
Ich habe registriert, in Braunschweig sind es vielleicht etwas über 1000 Jahre messbare Geschichte. In Niš geht es noch ein bisschen weiter zurück.
Wenn man die Geschichte verfolgt, erkennt man, dass in dieser Region von Bulgarien, Griechenland und vor allem in den Ländern oder der Region des Balkans mehrere römische Kaiser geboren sind. Also das ist auch sehr interessant, weil das damals zum römischen Imperium gehörte. Ich finde es super und das spürt man einfach. Es gibt sogar eine kleine Ethnie zwischen Griechenland und Mazedonien, wir nennen sie Cincari [im Deutschen evtl. auch als Zinzaren bezeichnet], das kommt vom Wort Cinque – römisch oder italienisch – die 5. Legion, die gedient hatte. Sie hatte damals Land statt Geld bekommen. Und da haben sie in Griechenland, in Nordmazedonien das Land bekommen als Soldaten, die gedient haben. Und das ist so ausgegangen, dass sie die Frauen von dort geheiratet haben. Daraus entstand eine unglaubliche Mischung von Römern und von Völkern, die aus Asien kamen. Das fand ich superinteressant, weil es wirklich so etwas auf dem Balkan gibt.
Betrachtet man die Region um Niš, sieht man die nahen Grenzen vieler Nachbarländer. Du bist sofort in Bulgarien, in Albanien, in Mazedonien, in Rumänien und in Griechenland. Damit ist kulturhistorisch auch die griechische Antike nicht weit. Und damit geht es zeitlich in der Region sogar in die vorrömische Zeit zurück.
Das ist sehr interessant heutzutage. Da war die berühmte Straße, die Via Militaris die über meine Stadt nach Konstantinopel bzw. Istanbul geführt hat. Das heißt, wenn du nach Istanbul gegangen bist, musstest du durch Niš kommen. Im Mittelalter benannte man diese alte Fernroute auch nach Byzanz bzw. Konstantinopel und später Istanbul. Damit ist auch der Ort selbst, an dem Niš sich befindet, auf der Karte interessant. Das ist der Weg von Westen nach Osten und natürlich auch umgekehrt.
Lass uns zum Abschluss nochmal eine Brücke zur Musik schlagen. Die Black Mambas [sehr schöne Musikvideos im Internet zu finden mit Stichwortsuche „black mambas crne mambe musik“] haben mich nicht losgelassen. Sie haben für gute Stimmung gesorgt und haben hierfür ein unglaubliches Repertoire beherrscht. Du hattest gesagt, einige von denen hatten zwar keine musikalische Ausbildung, aber die Stücke, die sie gespielt haben, da war alles dabei, Jazz, Pop, Gypsy, Rock, Klassik, Bolero, Etno, orientalische Klänge. Alles war beeindruckend und zugleich professionell. Ich hatte Dich vor ein paar Wochen fragen wollen, ob du Lust hast, mit zu „Kultur im Zelt“ zu kommen. Da spielte einen Abend Stefanie Heinzmann und Mikis Takeover! Ensemble. Du konntest nicht, Du hattest Generalprobe. Hast du von denen schon mal gehört? Wärst Du mitgekommen?
Bislang leider nur von gehört, aber nicht gesehen. Da wäre ich gerne mitgekommen. Miki ist doch der, mittlerweile von Düsseldorf aus auch bundesweit musikalisch, sehr erfolgreiche Sohn von Michael Kekenij, dem langjährigen und hervorragenden ersten Violinisten unseres Staatsorchesters.
Schön zu hören. Dann verfolgst Du also auch Crossover-Projekte oder andere interessante Gruppen und Projekte, bestimmt auch Josef & Friends oder auch andere Ableger vom Staatsorchester. Ich weiß Pop meets Classic liegt Dir am Herzen…
…und zu meinem ganz großen Bedauern gibt es leider „Klassik im Park“ nicht mehr.
Aber Ihr macht mit dem Staatsorchester doch weiterhin Gastkonzerte und Gastspiele auf anderen Events?
Ja, das ist wichtig. Das Wichtigste im Moment läuft gerade noch, das sind die Aufführungen auf dem Burgplatz, ich habe heute gerade mit einigen Musikern gesprochen. Sie meinten, die Premiere und auch die weiteren Vorstellungen waren veronamäßig. Wer diese berühmte Arena in Verona kennt, weiß, dass da eine besondere Stimmung ist. Das ist unser Markenzeichen, wir sind ganz stolz darauf. Wir haben jahrelang Klassik im Park gespielt. Wir spielen immer noch Pop meets Classic. Wir sind präsent bei Opern. Wir sind auch oft in Wolfsburg im Scharoun-Theater. Wir spielen in Helmstedt, wir spielen überall in der Region. Aber für uns ist es genau so wichtig und das muss ich immer betonen, das sind besondere Events. Unsere Hauptbeschäftigung und unsere Hauptarbeit sind natürlich die Arbeit im Theater und im Konzertsaal. Und das ist etwas, worauf ich das Publikum immer wieder einladen möchte, uns nicht nur bei besonderen Events, sondern im Staatstheater – jetzt, wo die Stadthalle renoviert wird – zu besuchen. Das ist für uns wichtig. Unsere größte Arbeit leisten wir dort. Wir sind immer offen. Wir gehen auch mit kleineren Besetzungen, mit nur Kammerbestzungen, wir wollen präsent sein, wollen, dass uns die Stadt immer wahrnimmt, weil ich merke, was für eine Begeisterung bei der Premiere von Il Travatore war. Ich habe mit dem Oberbürgermeister Dr. Kornblum gesprochen, mit Frau Dr. Hesse, mit Jens-Uwe Freitag von BS-Energy. All diese Leute schätzen unsere Arbeit sehr und unsere Aufgabe ist es, das weiter so gut zu machen. Wir sind immer für jede Art der Unterstützung sehr dankbar und freuen uns darüber.
Das war schon fast das Schlusswort. Nur noch kurz zu den Mitgliedern und Künstlern des Staatsorchesters. Anlässlich eines Sinfoniekonzerts in der Stadthalle habe ich am Künstlereingang die Musiker beim Kommen und Gehen beobachtet. Da fiel mir auf, dass schon aus der Körperhaltung und aus dem Auftreten der meisten das Ego gestandener und sympathischer Künstler und Spezialisten ablesbar ist. Wie ist die Interaktion bei einem solchen aus hoch qualifizierten Individuen mit jeweils ausgeprägtem Ego bestehendem Ensemble, um daraus ein Team zu formen, sie zu vereinen und mitzunehmen, damit ein Konzert erfolgreich ist und sich der bestechende Klangausdruck mit dem Publikum – wie etwa bei Mahlers 5. Sinfonie – vereint?
Das ist absolut wahr, ich muss sagen, wir haben natürlich jetzt auch einen Generationenwechsel im Orchester und dann merke ich, wenn alle diese jungen Leute kommen und sich bewerben, sehe ich, was für eine gute Ausbildung sie haben, eine großartige Ausbildung, die Qualität stimmt, das Niveau stimmt. Wir haben viele neue Kollegen bekommen und selbstverständlich, weil sie so gut ausgebildet sind, eine akademische Ausbildung haben, stehen sie zum Dirigenten von der Ausbildung her auf dem gleichen Niveau, was ich sehr, sehr akzeptiere. Wie gesagt, es ist einfach so, jeder spielt sein Instrument, jeder kennt seinen Part, jeder kennt seine Arbeit. Ich bin derjenige als Dirigent, der die gesamte Partitur kennt, der das zusammenbringt. Denn in den Konzerten und in den Vorstellungen ist das verbal nicht möglichst, sondern nur mit Zeichen, mit den Augen und mit Bewegungen. Ich finde es sehr schön, dass wir viele Leute im Orchester haben, die selbstbewusst sind, die wissen, wie gut sie spielen, die wissen, was für gute Künstler sie sind. Im Grunde genommen habe ich das Gefühl, das zwischen uns Respekt herrscht und das sie wissen, was ich kann, und ich weiß, was sie können und wir alle streben nur zum gleichen Ergebnis, das heißt, zu einem optimalen Konzert oder einer optimalen Vorstellung. Wenn sich diese Energie vereinigt, ist es die Synergie des Menschen. Dann entstehen solche Sachen wie die Premiere von Elektra oder die 5. Sinfonie von Gustav Mahler. Es ist eine große Freude mit diesem Orchester zu arbeiten. Und man sieht eigentlich, dass alle diese Musiker, wenn sie gut spielen, sind sie auch ganz stolz auf das, was sie getan haben, und das muss man auch preisen.
Ganz vielen Dank, Maestro. Viel Glück und Erfolg weiterhin Ihnen und den Künstlern und Mitgliedern des Staatsorchesters. Toi, toi, toi. Ich würde mich freuen, wenn Braunschweig diesen Kosmopoliten noch viele Jahre als GMD mit einem beeindruckenden Staatsorchester und Staatstheater behalten kann.
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