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Lifestyle

15. Januar 2024

Farewell Schwanensee

„Das Leben geht weiter“

Von Christian Lemke

( Fotografie: Marc Stantien )

1. Infiziert

Nie werde ich vergessen, wie ich als 17-jähriger Steppke zum ersten Mal einen Fuß in diesen sagenumwobenen Ort namens „Schwanensee“ setzte. Mein Bruder Tim schmiss den Laden schon seit längerer Zeit für den erkrankten Eigentümer Dimas Sorjadi und hatte mir einen lukrativen Job als „Sammler“ in Aussicht gestellt. Er fand, es war an der Zeit, dass ich mal aus Gifhorn rauskomme und das „richtige Leben“ kennenlerne! Schon der Weg durch das Treppenhaus, an der Schlange vorbei, die Augen nur auf den Boden gerichtet, elektrisierte mich! Und als ich dann den Tempel des Braunschweiger Nachtlebens betrat, war es endgültig um mich geschehen. Dieser Ort versprühte Magie: Die lässigen Jungs an der Tür, die hübschen Mädels an der Bar, alle feixten und hatten einen Mordsspaß . Man konnte sich kaum bewegen, so voll war es, es wurde getanzt und mitgesungen, jeder mochte mich sofort, so nach dem Motto „Ah der kleine Bruder von Timmi, der ist ja putzig!“ Es war wie ein Erweckungserlebnis! Ich wusste sofort: Hier will ich sein, ich habe meinen Platz gefunden. Was soll ich sagen, ich behielt Recht. Dieser Club wurde für die nächsten 25 Jahre mein zweites Zuhause. Wir haben im Schwanensee nicht einfach nur gearbeitet, wir haben den Laden gelebt, sind dort erwachsen geworden, haben geliebt, gelitten und gefeiert. Das Schwanensee war wie eine große Familie und egal, wie scheiße es dir gerade ging, wenn das Licht erlosch und die Musik spielte, konntest du alles für einen Abend vergessen! Umso schwerer fällt es mir nun, leb wohl zu sagen, zu unserer alten Dame. Aber 25 Jahre sind ein biblisches Alter für eine Diskothek und wir sind zusammen in die Jahre gekommen. Alles hat seine Zeit und das Schwanensee hatte eine sehr lange und wunderschöne und darauf möchten ich heute noch einmal zurückblicken. Es ist ein sehr persönlicher Rückblick und ich hoffe, damit niemanden zu langweilen, aber ich maße mir an, zu sagen, dass die Lemke-Brüder das Schwanensee wie niemand anders geprägt haben und nehme mir deshalb das Recht heraus, einen Nachruf aus meiner Perspektive zu verfassen.

2. Krawall und Remmidemmi

Wenn mich jemand fragt, was das Schwanensee ausmacht, warum es so ein besonderer Ort für viele Menschen war und ist, fällt mir ein Grund sofort ein: Hier wurde wirklich gefeiert bis der Arzt kommt. Hier wurde nicht nur einfach getanzt und geflirtet. Hier ging es nicht um sehen und gesehen werden. Nein hier wurde ESKALIERT. Wer einmal nichtsahnend das Schwanensee betreten hat, in einem Moment in dem Knuddel gerade „Freiheit“ oder Herbie „Angels“ gespielt hat, der dachte mit Sicherheit: „Ich bin im Irrenhaus gelandet!“ und genau das war es, ein Irrenhaus. Auf der Tanzfläche ein verklebtes Knäuel Menschen, gestapelt bis unter die 2 Meter hohe Decke, von der der Schweiß nur so hinunterlief. Alle, wirklich alle schrien so laut mit, dass man die Anlage nicht mehr gehört hat, auf dem DJ-Pult hüpfende Menschen, z.T. nur noch spärlich bekleidet, hinter der Bar unzählige Freunde und Stammgäste, die entweder mithalfen oder einfach nur dort feierten, weil es sonst keinen Platz mehr gab. Im Schwanensee haben sich wirklich Szenen abgespielt, die jeder Beschreibung spotten und die heute nicht mehr vorstellbar sind: ein verzweifelter Mensch, der aus der Toilette Wasser schöpfte, weil er solchen Durst hatte, dass er es nicht mehr bis zum Waschbecken schaffte, Raufereien die mitunter Ausmaße annahmen, wie bei einer Schlacht zwischen Asterix und den Römern, überall wurde geknutscht und ge… Ach, ich möchte niemanden mit Details belästigen, aber ich kann sagen, es war auch ein Hort der Liebe. Es gibt viele Ehen, die im Schwanensee ihren Anfang nahmen und auch dort gefeiert wurden. Auch auf einige Schwanensee-Babys können wir mit Stolz verweisen, wenngleich ihre Eltern ihnen wahrscheinlich andere Geschichten erzählt haben.

Es war diese besondere Stimmung, dieses explosive Gemisch aus Emotionen, die das Schwanensee so besonders gemacht haben. Der große Hondelager Philosoph Dr. Thomas Richter hat es mal mit den Worten beschrieben: „Hier kann man auch mal Mensch sein.“ Das trifft es ziemlich genau. Dieses Irrenhaus zu leiten und dafür zu sorgen, dass es für die Gäste ein angenehmer Ort blieb und die Stimmung nicht umschlug, war mitunter ein Ritt auf der Rasierklinge, es ist uns aber, glaube ich, rückblickend gesehen, ganz gut gelungen.


3. Before anyone did anything Schwanensee did everything

Auch musikalisch war das Schwanensee immer ein ganz spezieller Club. Wir haben uns nie festgelegt und immer versucht, möglichst viele Leute abzuholen. Es gab quasi jede Woche ein anderes Motto und einige Partyreihen sind in die Geschichte des Braunschweiger Nachtlebens eingegangen. Angefangen mit der Schlagerparade, bei der DJ Knuddel über 20 Jahre vom DJ-Pult predigte, nicht auflegte, sondern einen Gottesdienst des Schlagers mit CDs zelebrierte, über die legendäre Housekatze bei der sich tatsächlich im winzigen Schwanensee weltberühmte House DJS die Klinge in die Hand gaben, bis hin zu den, von mir besonders geliebten, Soulnitern, die Motown Musik der Rollerclubs, eine Gruppierung die heute leider auch vom Aussterben bedroht ist. Champagne Supernova mit Christian Göttner und Sven Wischnoswki  Soulseduction mit DJ Sammy und Thomas Heiseke, Trashpop mit Herbie Herbsen, Deepsoul mit Judge D, Browntown Rules mit Rula Ric, Weltuntergang, Ladies Night, Heimspiel, Bunny Range, Löwentekk, MDMA. Man könnte diese Reihe an Veranstaltungen noch ewig weiterführen, ich möchte hier nur zeigen, wie vielfältig das Schwanensee aufgestellt war und wie sehr wir die Zusammenarbeit mit DJs und Künstlern geschätzt haben. Viele, die heute im Braunschweiger Nachtleben unterwegs sind, haben ihren Ursprung im Schwanensee genommen und darauf sind wir zurecht stolz. Das Schwanensee war sowas wie die Keimzelle vieler Events und Partys! Die Braunschweiger Meile ist gewachsen, es gibt mittlerweile ein vielfältiges Angebot, für jeden Musikgeschmack und jede Zielgruppe gibt es einen eigenen Club. Vielleicht ist das Konzept, verschiedene Klientele anzusprechen, heutzutage nicht mehr zeitgemäß, es hat aber lange Jahre dazu beigetragen, den Club zu etwas ganz Besonderem zu machen.

4. Von Promis und Arschproleten

Ein Club ist jedoch nichts ohne seine Besucher und deswegen sollen an dieser Stelle natürlich auch die Gäste des Schwanensees angemessen gewürdigt werden. Wer den Artikel bisher aufmerksam gelesen hat, kann sich denken, wer sich im Schwanensee besonders wohl gefühlt hat: Die durchgekrachten Partymäuse aller gesellschaftlichen und sozialen Schichten. Seit ich meinen Dienst im Schwanensee 1998 aufnahm, habe ich wirklich alles erdenklich Mögliche an unterschiedlichen Gruppierungen, Strömungen und Partygängern kommen und gehen sehen. Rollerfahrer, Fußballfans, HipHopper, Techno-Enthusiasten, Soulliebhaber, Schlagergroupies und Mallorca-Fahrer. Sie alle einte die Liebe zum roten Wohnzimmer. Natürlich bestand immer ein ganz besonders enges Verhältnis zur Braunschweiger Eintracht, sodass wir uns oft darüber gefreut haben, die Mannschaft und das Trainer-Team zu diversen Aufstiegsfeiern und Derbysieger-Partys in unseren heiligen Hallen begrüßen zu dürfen. Auch veranstalteten wir jedes Jahr die Abendveranstaltung des Benefiz-Turniers der Braunschweiger Fanclubs für den schwer erkrankten Jannes, dies verbindet uns seit 2011 mit den Fanclubs. Mitunter hatten wir auch viel Spaß mit prominenten Gästen. Roger Federer zum Beispiel bescherte uns einen sehr vergnüglichen Abend, nach einem Gastspiel bei den Braunschweig Open. Mario Barth hingegen hat sich einfach nur wie ein unsympathisches Arschloch verhalten! Auch hier lässt sich festhalten: Im Schwanensee konnte jeder so feiern wie er wollte, Anzugträger und Arschproleten und wir möchten uns zum Abschied bei allen bedanken, die das Schwanensee zu dem gemacht haben, was es war.

5. Die Schwanensee Familie

Das Allerwichtigste jedoch zum Schluss: Wir hätten in den vergangenen 25 Jahren nichts, aber auch gar nichts erreicht, ohne unsere Crew. Ihr gebührt unser größter und aufrichtigster Dank. Einige von unseren Jungs an der Tür begleiten uns bereits seit über 20 Jahren auf unserem Weg und sind mit uns durch dick und dünn gegangen. Ich könnte mir keine geileren Mitarbeiter wünschen als wir sie im Schwanensee hatten. Neubau nach dem verheerenden Feuer von 2003, Durststrecke nach der Eröffnung des Fiebers, spontan am Samstagabend um 23 Uhr einspringen, Helfen in der Freizeit, trösten in der schlimmsten Trauer. All das und noch viel mehr haben unsere Mitarbeiter, was sag ich, unsere Freunde, für uns und mit uns getan. Egal, ob Türsteher, Thekenmädels, DJs oder Sammler. Sie alle haben fürs Schwanensee gebrannt, als wäre es ihr eigener Laden. Viele meiner besten Freundschaften sind im Schwanensee entstanden, viele große Gefühle haben im roten Wohnzimmer ihren Ursprung genommen. Wir stehen und fallen zusammen war immer unser Motto und jetzt wird es Zeit Adieu zu sagen. Unser ganz besonderer Dank gilt daher folgenden Menschen – für ihre Liebe und Unterstützung für den Laden: Shorty, Hobbit, Herbie Herbsen, Knuddel, Geraldo de Palma, Joanski, Rock DJ Handrix, Anita und Uwe, Andi Innao, Günni, Olli, Jan, Flotze und Leni. Diese Liste könnte noch zwei Seiten füllen und wir entschuldigen uns bei allen, die hier nicht aufgelistet wurden, aber irgendwann muss Schluss sein, mit dem Schwan, der wunderschönen Zeit und auch mit diesem Artikel.

Farewell, gutes altes rotes Wohnzimmer!

Dieser Artikel erschien zuerst in der Stadtglanz Print-Ausgabe 29 / Winter 2023.

 

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