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Kultur

30. Oktober 2023

Wellness fürs Gemüt

Zu Besuch im Museum

Von Dr. Christian Lechelt

(Fotografie: Joko)

Sich selbst etwas Gutes tun.
Im Museum.
Echt jetzt?

Angesichts der Belastungen und Trivialitäten des gemeinen (Arbeits-)Alltags ist die Selbstfürsorge – auch bekannt als „Me-Time“, denn das klingt ja so schön weltläufig – zu einer Schlüsselkompetenz der allgegenwärtig diskutierten, beklagten und besungenen Work-Life-Balance geworden. Darüber wurde und wird viel gestritten, eingefordert und gelästert – ganz im Sinne der spalterischen Lagerbildung ohne Grauzone. So will ich nun nicht eine weitere, letztlich belanglose Polemik absondern, demnach eine kultivierte Achtsamkeit gegenüber sich selbst nur Ausdruck wohlstandverwahrloster Überspanntheit mit Distinktionssucht sei beziehungsweise – entgegengesetzt – der moderne (oder postmoderne oder schon post-postmoderne, suchen Sie es sich aus) Mensch sich durch die Verzweckung im schweinekapitalistischen System zu Grunde richtet. Vielmehr geht es um einen Appell an die Gelassenheit und die Erinnerung an ein Konzept, das bereits die Philosophen der Antike weidlich formulierten: die Muße. Für Aristoteles war sie ein dem Menschen wesentliches Element zur Erlangung der Glückseligkeit. Seine scholia meint die zweckfreie Beschäftigung mit etwas, sich selbst, mithin eine Zeit, in der eine Selbst-Entfaltung durch das Sich-Versenken in eine Sache um ihrer selbst willen möglich ist. So ist es, wenngleich etymologisch völlig unkorrekt und nur Dank heutiger Narrenfreiheit der willkürlichen Sinnverknüpfung möglich, orthographisch und phonetisch nur ein kleiner, akzentverschiebender Schritt von der Muße zur Muse und schließlich zum Museum! Und doch findet sich wahrhaftig auch ein logisches Band, ein roter Faden zur Verknüpfung dieser Begriffe: Wenn die Muße die sowohl sinnvolle als auch zweckbefreite, Geist und Körper gleichsam anregende und rekreierende Idee darstellt, dann sind die Musen ihre Schutzpatroninnen. Denn die Künste und Wissenschaft, über die die Musen wachen, gedeihen nur in der Muße. Diesen Göttinnen wurden Heiligtümer erreichtet, Museion genannt, wovon sich – jetzt wirklich einmal historisch korrekt – unser heutiges Museum ableitet.

Das Museion war nicht nur Kultstätte, sondern auch ein Bildungsort. Dort konnte sich also einer Sache um ihrer selbst willen gewidmet werden. Den Geist öffnen und auf Reisen schicken, in Selbstbestimmtheit tätig werden, dabei träumen können und bei sich selbst ankommen – wünschen wir uns das nicht alle? Dazu laden unsere Museen ein und bieten uns einmalige Orte der geistigen wie sinnlichen Entfaltung und Erfahrung. Mir gelingen diese Momente glückseliger Autonomie am besten in Gemäldegalerien wie unserem Herzog Anton Ulrich-Museum. Dort kann ich frei umherspazieren und selbst entscheiden, wie lange ich mich dem optischen Reiz eines Kunstwerkes aussetze. Wenn ich will, bleibe ich eine Viertelstunde vor Rubens Judith mit dem Haupt des Holofernes stehen und ertaste mit den Augen das Relief der Malschicht. Oder ich lese in Gedanken (oder auf dem Smartphone) noch einmal die Geschichte der alttestamentarischen Heldin und vertiefe mich in Fragen zum Sujet und dessen Darstellungsweise. Habe ich mich sattgesehen am Chiaroscuro, der dramatischen Lichtführung der Szene, gehe ich ein Stockwerk höher und berausche mich an der berühmtesten, seltensten und kostbarsten Vase weit und breit, einem Wunderwerk aus sogenanntem Medici-Porzellan. Mit jedem Kunstwerk füllt sich der ästhetische Akku, ein Gefühl der Zufriedenheit breitet sich aus. Denn hier, im Museum, kann ich in wohltemperierter Atmosphäre, ohne Lärm und Hektik die Sinne schärfen und mich ganz der Muße hingeben. So gesehen ist das Museum ein echter Wellnesstempel fürs Gemüt. Die Musen wird es – hoffentlich – freuen!

Dieser Artikel erschien zuerst in der Stadtglanz Print-Ausgabe 28 / Herbst 2023.

Dr. Christian Lechelt

Kunsthistoriker, Leiter des Museums Schloss Fürstenberg. Experte für die Kunst- und Kulturgeschichte des europäischen Porzellans vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Vizepräsident der Gesellschaft der Keramikfreunde e. V. und Redakteur der Zeitschrift KERAMOS.

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