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Lifestyle

18. September 2024

Starke Frauen, starke Männer? Starke Personen!

Starke Frauen, starke Männer. In der heutigen Gesellschaft wird weiterhin in männlichen und weiblichen Kategorien oder Stereotypen gedacht. Doch was macht Stärke in Frauen anders als Stärke in Männern? Gibt es überhaupt Unterschiede oder ist diese Debatte längst überholt?

Von Prof. Dr. Angela Ittel

Prof. Dr. Ittel

(Fotografie: Technische Universität Braunschweig)

Im Nachdenken über diesen Beitrag habe ich mich zunächst an dieser traditionellen Aufgliederung gestoßen und hatte den Impuls, sie zu hinterfragen. Was soll diese Dichotomie, dieses strenge Entweder-oder? In meiner Ausfassung kann so eine Sichtweise vom eigentlichen und weit wichtigeren Punkt ablenken: Unabhängig von der geschlechtlichen Identität braucht es mehr denn je starke Personen. Womöglich verzetteln wir uns, wenn wir weibliche oder männliche Stärke definieren. Stellen wir doch einmal die Bedeutung starker Personen für unsere Gesellschaft und deren Wertschätzung in den Mittelpunkt der Diskussion!

Nun kann man natürlich lange darüber streiten, was Stärke bedeutet. Starke Personen – in meiner Definition für diesen Beitrag – sind diejenigen, die unabdingbar die Werte einer demokratischen Gesellschaft vertreten und in diesem Rahmen aktiv für die Wertschätzung von Vielfalt, Toleranz und Gerechtigkeit eintreten.

Führen wir die richtige Debatte?

In den letzten Jahren ist verstärkt eine aufgeregte Debatte um das Thema binäre Geschlechterordnung und Geschlechtergerechtigkeit ausgebrochen. Die Frage, ob wir sprachlich beide oder gar alle Geschlechter verdeutlichen sollen, erhitzt die Gemüter. Während es gesellschaftsweit zu bemerkenswerten Fortschritten bei der Chancengleichheit in einigen Bereichen gekommen ist, in anderen Bereichen zumindest zu langsamen aber stetigen Zugewinnen, so wird der Mehrwert dieser Erfolge für die Demokratie in unserem Land oft durch eine sehr polarisierend geführte Debatte überdeckt.

Die Debatten rund um Geschlechtergerechtigkeit werden häufig als spaltend empfunden. In dem Buch aus dem Jahre 2023 „Triggerpunkte: Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft – Warum Gendersternchen und Lastenfahrräder so viele Menschen triggern“ beschreiben der Soziologe Steffen Mau und seine Koautoren Thomas Lux und Linus Westheuser, wie Menschen, die dort als „Polarisierungsunternehmer“ bezeichnet werden, „Triggerpunkte“ nutzen, um Randaspekte gesellschaftlicher Aushandlungen als gesellschaftliches Spannungsverhältnis in den Mittelpunkt zu rücken. So werden solche Themen überhöht, lächerlich gemacht und delegitimiert und letztendlich für den eigenen Machtanspruch genutzt.

Populistische Medien oder populistische politische Akteure nutzen nicht selten solche Mechanismen und stellen Aspekte der aufgeheizten Geschlechterdebatte in den Vordergrund. Die Ablenkung von anderen wichtigen Inhalten ist hier sicher willkommen und beabsichtigt, nicht nur ein Nebeneffekt.

Im Wahlkampf in den USA lässt sich das gerade wieder beobachten: Anstatt auf die gesellschaftliche Fragen einzugehen, werden Geschlechteridentitäten und -stereotype oft als Werkzeuge genutzt, um Ängste zu schüren oder Spaltungen zu vertiefen. In der Unterstellung der Trump-Kampagne, dass Kamala Harris’ Aufstieg bis zum Posten der Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten im Endeffekt einer Frauen-Quote zu verdanken sei, dass die Juristin „dumb as a rock“ sei, schwingt pure Frauenfeindlichkeit mit.

Der Wahlkampf wird dann nicht nur zum Wettkampf um politisch relative Inhalte und Stimmen, sondern auch zum Kampf um die Deutungshoheit über Geschlecht und Identität. Hierbei wird die Realität, dass gute Führungskompetenzen und starke Führungspersönlichkeiten nicht geschlechtsspezifisch sind, häufig aus den Augen verloren. Umso wichtiger war es, im direkten Vergleich der beiden Kandidat*innen die Unterschiede in Position, Weltanschauung und Auftreten während der kürzlich stattfindenden Fernsehdebatte zu erleben. Der geneigte Zuschauer oder die geneigte Zuschauerin konnte dabei für sich selber entscheiden, wer kompetenter und dem Amt entsprechend wirkte.

Auch in den hiesigen Debatten und Wahlkämpfen finden sich zuhauf Beispiele für den Einsatz vieler Arten von Stereotypen. Darunter sind es unter anderem die Geschlechterstereotypen, die Menschen voneinander trennen sollen, ihr Anderssein betonen sollen, die also, wie man in der Fachwelt sagt, ein „Othering“ bestimmter gesellschaftlicher Gruppen erzielen wollen – die am Ende Gegnerschaft erzeugen. Das ist Gift für unsere Debatten und erschwert das konstruktive Miteinander und die Findung von Lösungen. Stereotype schränken nicht nur die Möglichkeiten und Freiheiten von Individuen ein, sie fördern auch gesellschaftliche Spaltung und behindern die wertvolle Diskussion über (Geschlechter-)Gerechtigkeit. Anstatt Geschlechteridentitäten als das zu betrachten, was sie sind – nämlich facettenreiche Aspekte des Menschseins – wird eine binäre Denkweise gepflegt, die das Zusammenspiel von Vielfalt, Identität und individuellen Stärken ignoriert.

Auch die Wissenschaft und vor allem der hochschulpolitische Wissenschaftsbetrieb ist natürlich nicht frei von vereinfachten und oft verzerrten Vorstellungen über bestimmte Gruppen und ihre angenommenen Fähigkeiten, Interessen und Rollen, ihre Beiträge und Leistungen. Nahezu alle meine weiblichen Kolleginnen in den Leitungen der Hochschulen berichten davon, zu irgendeinem Zeitpunkt – meist zum Amtseintritt – gefragt worden zu sein, was ihr „weibliches“ Führungsverhalten ausmacht und wie sie die Unterschiede zwischen „männlichen“ und „weiblichen“ Führungskompetenzen bewerten.

Spannender ist doch die Diskussion darum, was gute Hochschulleitung ausmacht. Es ist eigentlich keine Sensation mehr, wenn eine Frau in einer Leitungsposition ist, und wo sie dann womöglich geschlechterspezifisches Verhalten ortet.

Weit verbreitet sind auch geschlechterstereotype Vorstellungen und Erwartungen, die Studienwahl und die späteren Berufslaufbahnen beeinflussen. Sie suggerieren, dass die Talente für naturwissenschaftliche und technische Fächer meist bei männlichen Kollegen liegen, während Talente für erziehungswissenschaftliche oder soziale Berufe bei Frauen ausgeprägter sind. Diese oft auch subtile Annahme (auch „unconscious bias“ genannt) führt häufig dazu, dass Frauen oder Männer sich in den „untypischen“ Disziplinen weniger ermutigt fühlen oder als weniger kompetent wahrgenommen werden. Ja, diese Diskriminierung gibt es in beide Richtungen, und das ist schade. Wir müssen alle Talente nutzen und unterstützen!

Natürlich gibt es viele Ausnahmen. Weibliche Talente in den sogenannten MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) werden von Hochschulen intensiv umworben, doch zeigen die letzten Auswertungen des Statistischen Bundesamts von 2022, dass bei den Professuren der Ingenieurwissenschaften mit 16 % der Frauenanteil am niedrigsten lag. In der Fächergruppe Geisteswissenschaften lag er mit 42 % hauptberuflichen Professorinnen am höchsten. Als ich mit meiner Kollegin Prof. Dr. Tanja Brühl, Präsidentin der TU Darmstadt, einstimmig gewählt von unseren Kolleg*innen, die Leitung der Allianz der führenden neun technischen Universitäten Deutschlands (TU9 Allianz) übernahm, las man in den sozialen Medien einige erschreckte Stimmen, ob nun die Ingenieurwissenschaften „verweiblicht“ würden.

Um Stereotypen entgegenzuwirken, setzen viele Institutionen, auch die TU Braunschweig, aktiv Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit um. Programme zur Diversität, Schulungen zur Sensibilisierung für das Thema „unconscious bias“ und Netzwerke für unterrepräsentierte Gruppen sind einige der Ansätze, um einen inklusiveren wissenschaftlichen Studien- und Arbeitsort zu schaffen und Personen nach ihren Talenten zu fördern. Solche Bemühungen sind entscheidend, nicht nur um eine gerechtere Arbeitsumgebung zu fördern, sondern auch um die Innovationskraft und den Fortschritt in Wissenschaft und Wirtschaft zu stärken.

Es scheint mir eindeutig, dass wir unsere stereotypischen Bilder und vorurteilbehafteten Handlungsweisen in den Medien und im Alltag klar benennen müssen. Indem wir Stereotypen erkennen und aktiv abbauen, können wir eine Gemeinschaft schaffen, die inklusiver, fairer und zugänglicher für alle ist.

Das Benennen und konsequente Eintreten für die Werte unserer Gesellschaft, wie sie auch in unserem Grundgesetz verankert sind, und für das Miteinander, dass wir uns wünschen, ist für mich Ausdruck einer starken Person, die unsere Gesellschaft mehr denn je benötigt.

Nicht starke Frauen und starke Männer – starke Personen

Für mich braucht es einen Paradigmenwechsel in der Diskussion. Anstelle von Kategorien wie „starke Frauen“ und „starke Männer“ sollten wir uns darauf konzentrieren, was starke Personen ausmacht. Starke Personen sind, wie bereits angerissen, für mich diejenigen, die unabhängig von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit oder sozialem Status die Werte unserer Gesellschaft leben und verteidigen. Sie sind es, die sich für Demokratie, Toleranz und Vielfalt einsetzen und die in ihren jeweiligen Gemeinschaften Führungsrollen übernehmen, egal ob es sich um formale Positionen oder informellen Einfluss handelt.

Beispiele gibt es überall: Diese Personen sind Lehrer*innen, die ihren Schüler*innen die Wichtigkeit von demokratischen Grundwerten näherbringen, und wie man sie argumentiert. Das können auch Mitglieder einer Unternehmens-Geschäftsführung sein, die eine inklusive Unternehmenskultur fördern und Vielfalt in der Belegschaft als wirtschaftlichen Vorteil betrachten. In beiden Fällen geht es nicht um das Geschlecht, sondern um die Haltung und die Werte, die eine Person verkörpert. Solche starken, integrativen Persönlichkeiten sind entscheidend, um gesellschaftliche Spaltungen zu überbrücken.

Gute Führung und klare Haltung

Im Kontext „Starke Personen“ ist das Thema Führung von großer Bedeutung. Gute Führung geschieht nicht durch Zwang oder durch das Festhalten an stereotypen Erwartungen, sie entsteht durch die klare Haltung, für die eigenen Werte einzustehen und diese zu vertreten. Starke Führungspersönlichkeiten zeichnen sich darüber hinaus dadurch aus, dass sie klare Positionen beziehen und andere ermächtigen, dies ebenfalls zu tun. Sie schaffen Räume, in denen demokratische Grundwerte nicht nur akzeptiert, sondern gefeiert werden. Es sind die Führungskräfte, die Unsicherheiten ansprechen und eine inklusive Kultur fördern. Nur der Austausch von Ideen und Meinungen ermöglicht Menschen, ihre Stärken zu entwickeln und zu zeigen.

Diese Art von Führung erfordert Mut, denn sie steht oft im Widerspruch zu bestehenden Machtstrukturen und gesellschaftlichen Normen. Eine solche Haltung kann Veränderungen anstoßen und die Art und Weise, wie wir über Geschlecht, Identität und Leistung denken, maßgeblich beeinflussen. Wenn Führungspersönlichkeiten unabhängig von ihrem Geschlecht oder ihrer Position in der Lage sind, für eine inklusive und gerechte Gesellschaft einzutreten, kann die Diskussion über Geschlecht in den Hintergrund treten – und es wird Zeit dazu, finde ich.

Anstatt uns in eindimensionalen Diskussionen über starke Frauen oder starke Männer zu verlieren, sollten wir den Fokus auf starke Personen legen, die demokratische Werte und Vielfalt aktiv leben. Die gesellschaftlichen Herausforderungen, vor denen wir stehen, erfordern es, dass wir Talente und Stärken unabhängig von Geschlecht oder Hintergrund anerkennen.

Die notwendigen Veränderungen – sei es in der politischen Landschaft oder innerhalb von Organisationen – können durch starke, integrative Führungspersönlichkeiten vorangetrieben werden, die sich klar zu ihren Werten bekennen und andere dazu ermutigen, das Gleiche zu tun. Indem wir Stereotypen und dadurch bedingte Einschränkungen hinter uns lassen und den Wert jedes Einzelnen in den Vordergrund stellen, können wir eine innovative und gerechtere Gesellschaft schaffen. In diesem Sinne ist es an der Zeit, die Diskussion über Geschlecht und Identität zu einem gemeinsamen Streben nach einer inklusiven Gesellschaft zu transformieren.

 

Die Psychologin Prof. Dr. Angela Ittel ist seit dem 1. Juli 2021 Präsidentin der Technischen Universität Braunschweig. Seit 2022 führt Angela Ittel die TU9-Allianz als Doppelspitze mit Prof. Dr. Tanja Brühl, seit 2023 ist sie zudem Vizepräsidentin der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) mit dem Schwerpunkt „Internationale Angelegenheiten, Gleichstellung, Diversität“.

 

 

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