Wirtschaft
Das BS–WOB–Sofa
Timo Grän im Gespräch mit Dr. Gjuki Tettenborn und Florian Bernschneider
Von Timo Grän
Dass die Region Braunschweig-Wolfsburg viel mehr kann als Autos zu bauen, ist in vielen Ausgaben von StadtGlanz belegt worden. Doch klar ist auch: Volkswagen ist ein ganz wesentlicher Treiber für den Erfolg der Region und die Transformation des größten Automobilherstellers der Welt ist nicht nur für Autobegeisterte spannend, sondern wird die Region Braunschweig-Wolfsburg wesentlich prägen. Wo Volkswagen gerade auf dem Weg zum Auto der Zukunft steht, beantwortet Dr. Gjuki Tettenborn auf dem StadtGlanz-Braunschweig-Wolfsburg-Sofa.
Fahren in Level 4 – und damit das Fahren über lange Strecken, ohne dass der Fahrer oder die Fahrerin aktiv ins Fahrgeschehen eingreifen muss, werden wir erst in der 2. Hälfte des Jahrzehnts erleben können.
Volkswagen hat angekündigt, die begehrenswerteste Marke für nachhaltige Mobilität zu werden. Wie definieren Sie Mobilität? Ist das zwingend immer der Besitz eines eigenen Autos?
GT: Mit dieser Frage treffen Sie Mitten in unsere Transformation. Heute sind wir primär Autohersteller und machen die ersten guten Erfahrungen mit neuen Services, z.B. dem Auto-Abo. Dort vermieten wir für einen begrenzten Zeitraum, etwa einige Monate, Elek-
troautos unserer ID.-Familie. Und das kommt gut an! Aber es wird auch in Zukunft immer Menschen geben, die ein Auto kaufen und besitzen wollen. Die Menschen möchten mobil sein und in jeder Lebenslage das dann gerade passende Fahrzeug zur Verfügung haben. Und darauf bereiten wir uns vor. Wir wollen eine „Love Brand“ sein. Unsere Fahrzeuge sollen Emotionen wecken, begeistern und auf individuelle Kunden-Bedürfnisse eingehen – ob die Kunden sie nun kaufen oder „nur“ nutzen.
Die Autoindustrie erfindet sich gerade komplett neu, Stichworte: Elektromobilität und Digitalisierung. Was macht einen Volkswagen in diesem neuen Zeitalter aus?
GT: Wir stehen für hohe Qualität, Top-Sicherheit, Innovationen für alle sowie zeitloses Design. Diese Markenwerte werden wir in die neue, digitale Welt transferieren. Noch ist es ein wenig zu früh, um konkret zu werden. Aber Sie können mir glauben: Da kommen richtig spannende Sachen, mit denen wir überraschen werden! Intelligente Software und digitale Vernetzung machen aus dem Auto der Zukunft ein mobiles Software-Device und eröffnen die Möglichkeit, neue Mobilitätserlebnisse für unsere Kundinnen und Kunden zu schaffen. Zudem wird Volkswagen das autonome Fahren für viele Menschen verfügbar machen. Das ist ein bisschen so wie damals 2007 beim Apple iPhone – heute ist eine Welt ohne Smartphones nicht mehr vorstellbar.
Wenn die wahre Revolution insbesondere mit dem viel diskutiertem „Autonomen Fahren“ erst noch kommt – wie weit ist Volkswagen?
GT: Das Autonome Fahren mit privaten Pkw – also nicht als Mobility-as-a-Service mit Robo-Taxen durch sehr aufwendige Technologie – wird sich eher evolutionär entwickeln. In der ID.-Familie sind wir bereits mit dem „Travel Assist“ auf Level 2+ unterwegs und damit in der Branche führend. Die ID. Familie kann teilautomatisiert überholen – der Fahrer muss dabei jedoch noch volle Kontrolle über das Fahrzeug haben und damit Hände am Lenkrad und Blick auf die Straße. Fahren in Level 4 – und damit das Fahren über lange Strecken, ohne dass der Fahrer oder die Fahrerin aktiv ins Fahrgeschehen eingreifen muss, – werden wir erst in der 2. Hälfte des Jahrzehnts erleben können. Die Technologie wird bei uns erstmals mit der neuen vollelektrischen, mechatronischen Plattform SSP (Scalable System Platform) in Serie gehen. Die SSP Plattform wird die Basis für z.B. Trinity und vieler weiteren Produkten unserer Marke und des Konzerns sein.
Was bedeutet automatisiertes Fahren auf Level 4 für Volkswagen konkret und worauf kann sich der Kunde einstellen?
GT: Level 4 meint vollautomatisiertes Fahren und Parken. Das bedeutet, dass das Fahrzeug zum Beispiel auf der Autobahn oder im Parkhaus komplett autonom fahren kann und die Insassen sich derweil anderen Tätigkeiten zuwenden können. Diese Technik eröffnet ganz andere Lebenswelten im Fahrzeug – während der Fahrt zu schlafen, zu arbeiten, sich intensiv auf Social Media zu bewegen oder Filme anzuschauen wird zukünftig möglich sein. Neben dem Erwerb dieser Option direkt mit dem Kauf des Fahrzeuges, können unserer Kunden auch über Function-on-Demand zu jeder Zeit selbst entscheiden, welche Funktionen für sie attraktiv sind und diese ganz einfach „over the air“ aktivieren, z.B. für die Fahrt in den Urlaub. Das Fahrzeug ist beim Kauf bereits technisch „ready“ dafür. Mit dieser Strategie schafft Volkswagen die Voraussetzungen für neue Geschäftsmodelle und mehr Flexibilität. Mit einer flexiblen Abrechnung nach temporärer Nutzung wird die Technologie für viele Menschen verfügbar.
Will der klassische Volkswagen-Kunde überhaupt so ein Hightechauto?
GT: Wohin sich der Kundenbedarf bezüglich Hightech entwickelt, können wir heute bereits insbesondere bei Wettbewerbern aus China erkennen – die zeigen uns Technologie-Trends gut auf. Wir richten zudem Prozesse, Denkweisen und Organisationen noch intensiver an den geforderten Kundenerlebnissen der Zukunft aus. Wir sind davon überzeugt, dass wir den Kunden der Zukunft eine vernetzte Mobilität anbieten müssen. Das Fahrzeug wird somit zum Software-getriebenen „Begleiter“. Es ist also vergleichbar mit der Entwicklung des Telefons zum Smartphone. Dabei verzichten wir entsprechend dem Kunden-Feedback allerdings nicht auf direkte Bedienelemente wie Tasten. Letzten Endes entscheiden aber die Kunden zukünftig selbst über die Ausprägung und Inhalte ihrer digitalen Mobilität, bis hin zur Fähigkeit des Automatisierten Fahrens in Level 4. Diese Entwicklung der Marke zum vollumfassenden Mobilitätsanbieter ist essenzieller Bestandteil unserer Strategie, und unsere SSP-Plattform ist der Gamechanger für diese Transformation im und um das Produkt.
Warum ist Volkswagen zuversichtlich, dass der „Game Changer“ erfolgreich in unserer Region entstehen kann?
GT: Mit der SSP entwickeln wir Wolfsburg zum Leuchtturm für modernste und effiziente Fahrzeugentwicklung und -produktion und stärken damit nachhaltig die Wettbewerbsfähigkeit unseres Stammwerkes und die Attraktivität unserer Region! Wir machen hier deutlich: Transformation in Deutschland – das geht! In der Automobilindustrie geht die digitale Revolution mit einer umfassenden Transformation des Kerngeschäfts einher. Das hat großen fachlichen Reiz für (Tech-) Talente. Mit der Neuausrichtung der TE auf vernetzte, system- und funktionsorientierte Entwicklungsprozesse werden die Fahrzeugfunktionen in interdisziplinaren Teams agil entwickelt. Wir werden diese Zukunftskompetenzen durch gezielte Qualifizierung stärken und machen unserer Mitarbeiter fit für das digitale Zeitalter. Die technische Entwicklung bei Volkswagen nimmt damit eine Vorreiterrolle in der Transformation der Marke ein. Dazu gehört auch der Bau des hochmodernen Entwicklungszentrums „Campus Sandkamp“, welches die räumlichen Voraussetzungen für eine vernetzte und integrative Zusammenarbeit inkl. flacher Hierarchien und schnelleren Prozessen schafft.
Im Zweiten Teil unseres Interviews wollen wir nicht nur auf Volkswagen schauen, sondern beleuchten, wie es mit der Transformation in unserer Region insgesamt aussieht. Der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes der Region, Florian Bernschneider, gilt als kluger Beobachter und Impulsgeber für die Entwicklung unserer Wirtschaftsregion und blickt im Interview auf die Transformation von Industrie, Mittelstand, Wissenschaft und Politik in unserer Region.
Die Salzgitter AG rüstet sich für die Herstellung von klimaneutralem Stahl. Volkswagen macht uns zum Battery Valley. Mehr Transformation unserer Wirtschaftsregion geht nicht, oder?
FB: Das sind unheimlich wichtige Weichenstellungen für unsere Region. Wir sind das industrielle Herz Norddeutschlands und mit diesen großen Transformationsprojekten haben wir gute Aussichten, es auch in 20 oder 30 Jahren zu sein. Aber freuen wir uns nicht zu früh. Wir sollten nicht den Fehler der 1980er-Jahre wiederholen, in denen wir zwar große Überschriften formulierten, aber dann die Puste auf dem Weg verloren haben.
Was meinen Sie?
FB: In den 1980er-Jahren wurden wir zum Oker-Valley; waren stolz auf die Ansiedlung von Commodore und später von Toshiba und Intel und lehnten den Namen an das erfolgreiche Vorbild aus der San Francisco Bay Area an. Das Silicon Valley hat seitdem nichts von seinem Glanz verloren – im Gegenteil. Dort hat man sich neu erfunden, als die Hardwarefertigung nach Asien abgewandert ist. Uns ist das nicht gelungen, obwohl wir alle Voraussetzungen hatten, hier ein europäisches Silicon Valley aufzubauen. Man kann die Situationen nicht eins zu eins vergleichen und Volkswagen und Salzgitter Stahl haben eine ganz andere Verwurzelung, die auf diese Transformation aufbaut. Wir haben gute Chancen, ein globales Vorbild für die Industrie von morgen zu werden, aber es gehört einiges dazu – nicht nur von den großen Konzernen, sondern von der ganzen Region.
Was sollten wir diesmal besser machen?
FB: Wir rühmen uns gern als forschungsintensivste Region in Europa. Gerade jetzt muss es uns aber gelingen, diese Stärke noch viel mehr mit der hiesigen Wirtschaft zu vernetzen. In der Politik wird beim Technologietransfer gern von der Third Mission der Universitäten neben Forschung und Lehre gesprochen. Zur Wahrheit gehört aber, dass nur ein Bruchteil der Mitarbeitenden der Universitäten sich mit dem Wissenstransfer beschäftigen können. Auch das Wanderungssaldo niedersächsischer Hochschulen ist negativ. Heißt: Wir verlieren mehr Absolventen in andere Bundesländer als wir Studierende von ihnen gewinnen. Das Branding von LMU, RWTH Aachen oder Heidelberg ist eine harte Benchmark für uns. Mit Falko Mohrs kommt der neue Wissenschaftsminister aus unserer Region. Ihn müssen wir als Verbündeten gewinnen. Unsere Hochschulen brauchen keine weiteren Sparprogramme, sondern müssen als zentrales Renditeprojekt positioniert werden. Wenn wir es mit Battery Valley ernst meinen, muss die TU sich Stanford zum Vorbild für Technologietransfer und Wirtschaftskooperation nehmen. Und die gemeinsamen Erfolge müssen dann auch sichtbarer in der Region werden.
2010 rollte mit Leonie das erste autonom fahrende Auto der TU Braunschweig durch die Stadt.
Wir brauchen also mehr autonome Fahrzeuge im Stadtbild?
FB: Auf jeden Fall. Und wir müssen uns kritisch fragen, warum das nicht längst der Fall ist. 2010 rollte mit Leonie das erste autonom fahrende Auto der TU Braunschweig durch die Stadt. Wenn man heute autonom fahrende Autos im Stadtverkehr sehen will, schauen wir uns YouTube-Videos aus den USA und China an. Warum eigentlich? Zumindest in Europa sollten wir schnellstens zur Pilotregion für autonomes Fahren werden und auch die Mittelmäßigkeit unserer Elektroladeinfrastruktur schnell hinter uns lassen. Oberbürgermeister Dr. Kornblum hat einen Austausch zwischen den Spitzen von Wissenschaft, Stadtverwaltung und Wirtschaft ins Leben gerufen. Ein wichtiger Schritt, um mit einem neuen Mindset so ambitionierte Ziele erreichen zu können.
Welche Rolle spielt der Mittelstand dabei?
FB: Eine entscheidende! In der Region sitzen einige der besten Planungsingenieure Deutschlands. Mit wem soll der Umbau von Stadt und Industrie gelingen, wenn nicht mit ihnen? Allein im AGV sind über 80 IT-Unternehmen mit mehr als 7000 Programmierern organisiert. Wer soll digitale Geschäftsmodelle im Auto der Zukunft entwickeln, wenn nicht sie? Wir haben Präzisionsmaschinenbau, der in die ganze Welt liefert. Mit wem wollen wir neue Wertschöpfungsketten rund um den Einsatz von Wasserstoff in der Industrie bauen, wenn nicht mit denen? Wir haben junge Start-ups, die Leder im Reagenzglas züchten oder mit KI die Kollision von Satelliten verhindern. Wo wenn nicht hier, soll ein Ökosystem um die etablierte Industrie wachsen, um Transformation wirklich möglich zu machen?
Und woher kommen die Fachkräfte für all das?
FB: Das ist eine ganz wichtige Frage! Es gibt viele starke Wirtschaftsregionen in Deutschland und Europa. Sie alle haben das Problem, dass sie gegenüber den großen Zentren wie Berlin, Hamburg und München keine ausreichende Wahrnehmung bei Fachkräften finden. Also müssen wir kreativer im Außenmarketing sein als sie und smarter in der Integration. In Estland bekommt man die digitale Staatsbürgerschaft und bei uns die Wartenummer in der Ausländerbehörde. Die ersten Schritte sind gemacht: Bei der Allianz für die Region gibt es ein Welcome Center. Und: Wir müssen die Chancen von Automatisierung in allen Wirtschaftsbereichen heben. Der Spiegel titelt alle paar Jahre mit der Angst vor Arbeitslosigkeit, weil Computer und Maschinen uns arbeitslos machen. Die Wahrheit ist doch: Computer und Maschinen müssen unsere große Hoffnung im Kampf gegen Arbeiterlosigkeit werden.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Stadtglanz Print-Ausgabe 25 / Winter 2022.
Timo Grän
Herausgeber des Stadtglanz und der Service-Seiten. Verbrachte seine ersten Lebensjahre in Sambia und Botswana, bevor er Kind dieser Region wurde. Seitdem ein Förderer des Regionspatriotismus.
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