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Wirtschaft

20. April 2022

Bahnstadt

Die Zukunftswerkstatt unserer Wirtschaftsregion

Von Florian Bernschneider

Fotogafie: AGV Braunschweig

„Hier könnte ein europäischer Leuchtturm entstehen.“, sagt Thorsten Sponholz während er die Ackerstraße entlanggeht. Auf den ersten Blick merkt man der Szenerie nicht an, was an dieser Stelle Braunschweigs so große Anziehungskraft entwickeln soll, doch der Chef der Siemens Mobility Sparte in Braunschweig weiß, wovon er spricht. Das Gelände südlich dem Braunschweiger Hauptbahnhof, durch das er da geht, ist das größte innerstädtische Entwicklungsgebiet Niedersachsens. Über 80 Hektar davon hat das Land Niedersachsen als Fördergebiet ausgewiesen. Die Stadt Braunschweig betrachtet einen Planungsraum von über 300 Hektar.

Die Geschichte um das Gebiet zwischen A39 und dem Hauptbahnhof sowie zwischen dem Bebelhof und dem Hauptfriedhof ist gar nicht so neu. Immer mal wieder war im Gespräch, was mit den Liegenschaften passieren könnte. Für die Stadt keine leichte Diskussion, denn die Flächen gehören ihr zum Großteil nicht. Vor allem die Deutsche Bahn und das Unternehmen Aurelis besitzen die größten Potentialflächen.

2018 nahm die Diskussion um die Bahnstadt dann trotz der nicht einfachen Eigentümerstruktur Fahrt auf. Die Stadt Braunschweig beschloss das Integrierte Stadtentwicklungskonzept (ISEK), in dem die Bahnstadt ein Schlüsselprojekt der Stadtentwicklung ist. Kurz zuvor hatte Thorsten Sponholz das Thema auch auf die Tagesordnung des Arbeitgeberverbandes Region Braunschweig (AGV) gesetzt. Dort ist er Vorstandsmitglied und konnte mit dem PR-Manager Martin Burghartz über 80 Unternehmen und Institutionen gewinnen, die sich unter dem Dach des AGV im Netzwerk „Brunswick Railquarters“ engagierten, um Ideen zur Entwicklung einzubringen. Florian Bernschneider, der Hauptgeschäftsführer des AGV, musste nicht lange überzeugt werden.

„Unsere Wirtschaftsregion befindet sich in großen Umbrüchen. Wenn wir auch künftig so stark sein wollen wie heute, dann müssen wir Dinge neu denken und unser ganzes Innovationspotential nutzen. An anderen Orten dieser Welt werden dafür Smart Cities auf der grünen Wiese gebaut. Hier können wir das inmitten unserer bestehenden Stadt tun und damit eine Zukunftswerkstatt für unsere ganze Wirtschaftsregion bauen.“

Doch rund um die Kommunalwahlen hörte man auch kritische Stimmen. Es entstanden Befürchtungen, dass die von Corona und Versandhandel geschwächte Innenstadt weiter an Zugkraft verlieren könnte, wenn die Bahnstadt realisiert würde. „Deswegen ist es so wichtig, Bahnstadt und Innenstadt vernetzt zu denken. Die Nutzungen müssen sich ergänzen und nicht ersetzen, sonst ist mit der Bahnstadt nichts gewonnen“, meint Bernd Fels.

Der AGV hat den Initiator der Initiative spaces4future mit der Ausarbeitung konkreter Projektideen beauftragt. Fels weiß, wovon er spricht. Im Hauptberuf ist er Gründer und Geschäftsführer der if5, einem Beratungs- und Planungsbüro, das vom Start-up bis zum Konzern, von der Verwaltung bis zur Wissenschaft Arbeits- und Lernwelten der Zukunft plant. Wenn es nach ihm geht, soll eine grüne, innovative Tangente die Innenstadt mit der Bahnstadt verbinden und vielleicht sogar weiter bis in die Nordstadt führen. Darauf könnten dann nicht nur Menschen mit dem Fahrrad zwischen Bahnstadt und Innenstadt pendeln, sondern auch Güter auf autonomen Elektroplattformen transportiert werden.

„Es gibt spannende Projekte für stadtnahe oder sogar innerstädtische (Land-)Wirtschaftskreisläufe, die von der Bahnstadt aus im Stadtgebiet verteilt werden könnten und für Nachhaltigkeit und eine stärkere Resilienz sorgen.“, beschreibt Fels eine der Ideen. Eine andere Arbeitsgruppe von AGV und spaces4future denke darüber nach, wie abgeschiedenes CO2 großer Emittenten der Region in der Bahnstadt in einer Algenfarm umgesetzt werden könnte. Das CO2 wird in Algenwachstum und danach zu Textilfasern umgewandelt werden, die wiederum in der Braunschweiger Innenstadt im Textildruck verwendet werden könnten.

„Solche Ideen zeigen, dass wir ganz neue Wertschöpfungsketten bauen können, wenn wir die Bahnstadt vernetzt denken“, bekräftigt Florian Bernschneider. Ihm fehlen seit langem Räume, in denen Wissensarbeit und Fertigung zusammengedacht werden können. „Mit jedem Tag, an dem wir solche Räume nicht bieten können, verspielen wir große Zukunftschancen. Die Bahnstadt bietet mit Liegenschaften wie dem Güterbahnhof dafür optimale Bedingungen.“, ist sich Bernschneider sicher.

Fels hat wohl auch deswegen den Leitspruch geprägt: „Think big, start small, act fast.“ Die Bahnstadt darf aus seiner Überzeugung kein Städtebauprojekt werden, an dem Jahrzehnte am Reißbrett geplant wird, sondern in dem schnell erste Nutzungsideen realisiert werden. Deswegen hat sich das Netzwerk aus spaces4future und dem AGV auch damit beschäftigt, was mit den Bestandsimmobilien in der Bahnstadt möglich wäre: „Die bestehenden Gebäude aus der Eisenbahngeschichte bieten nicht nur einen besonderen Charme; eine Nachnutzung ist auch nachhaltiger als Neubauten und vor allem können wir so schnell spannende Chancen erschließen.“

Ein erster Ausgangspunkt, um die vielen Chancen zu erobern, könnte am Rande der Bahnstadt liegen. „Wer einmal auf der Echobrücke zum Kennelbad gestanden hat, erlebt einen magischen Ort.“, beschreibt Bernd Fels eine Aussichtsplattform der besonderen Art. Wenn es nach ihm und dem AGV geht, könnte hier, wo das Ringgleis ohnehin bald in die Bahnstadt führt, eine Art Pioneers-Club entstehen. „Unsere Idee ist hier in Leichtbau einen Treffpunkt für die Vordenker aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft zu bauen.“

Unter der Überschrift „Kultur und Community“ hat der Thinktank aus AGV und spaces4future mehrere Orte in der Bahnstadt identifiziert, die sich nicht hinter Angeboten in Berlin oder München verstecken bräuchten. Solche Orte seien der Schlüssel, um talentierte Köpfe anzulocken. „Die großen alten Backsteinhallen gegenüber dem Lokpark wären eine Idee, in der eine Art Campus für Digitalisierung und Technologie entstehen könnte, wie man ihn im Lokpark in Tilburg finden kann. Hier könnten Studierende der TU zusammen mit den Mitarbeitern großer Industriekonzerne und junger Start-ups ein Ökosystem aufbauen.“, so Fels.

Auch die Stadt Braunschweig beschäftigt sich in ihren Überlegungen mit solchen Nutzungskonzepten. Stadtbaurat Leuer stellte hierzu kürzlich die erste Rahmenplanung der Stadt vor, die von den Städteplanern Brederlau und Holik erarbeitet wurde. Während der AGV und spaces4future bereits sehr konkrete Projektvorschläge ableiten, fokussiert der Rahmenplan der Stadt eine Gliederung der Areale in Hauptnutzungspotentiale. Doch beides scheint sich gut zu ergänzen. Leuer erklärt dazu: „Viele der Ideen des AGV verbinden sich sehr gut mit unseren Vorstellungen der Rahmenplanung. Wir freuen uns, dass die regionale Wirtschaft so proaktiv Ideen zur Entwicklung dieses wichtigen Städtebauprojekts beisteuert. Mit einem breiten Engagement der regionalen Wirtschaft kann die Bahnstadt zu einem besonderen Quartier werden.“

Nun komme es vor allem auf die Eigentümer an, meint Bernschneider. „Unser Anspruch war zu zeigen, dass hier viel mehr möglich ist als ein Städtebau 08/15. Wenn die Grundstückseigentümer unsere Ideen weiterentwickeln oder realisieren wollen, steht ein starkes Netzwerk aus AGV und spaces4future dafür sehr gern zur Verfügung.“ Genügend Denkanstöße stecken in den Bildern der beiden Initiativen auf jeden Fall.

Florian Bernschneider

Florian Bernschneider ist Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Region Braunschweig. Von 2009 bis 2013 war der Betriebswirt jüngstes Mitglied des
Deutschen Bundestages und ist gefragter Sparringspartner und Experte zur Veränderung unserer Wirtschaft und Arbeitswelt.

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