Lifestyle
Mit Schneeschuhen über die Alpen
„Gut zehn Meter Abstand halten, es könnte eine Lawine abgehen“ ...
Von Claudia Gorille
...sagt unser Bergführer Dani, „die Wahrscheinlichkeit ist gering, aber besser ist besser.“ Wir wollen auf den Vermunt-Pass, der die Grenze zwischen der Schweiz und Österreich bildet. Doch der verschneite Hang ist so steil, dass wir nicht direkt nach oben gehen, wir wollen queren. Dani stapft voran und spurt mit seinen Schneeschuhen.
Sechs Leute folgen seinem rund 50 Meter langen Trampelpfad. In der Mitte der Strecke frage ich mich, was passieren würde ... nicht zu Ende gedacht, gibt der Schnee unter meinem Fuß nach, ich verliere das Gleichgewicht und ab geht nicht die Lawine, sondern ich. Auf dem Hosenboden rutsche ich gut 20 Meter nach unten, dann stoppt die unfreiwillige Rodeltour. Ich liege unbeschadet im weichen Pulverschnee auf dem Rücken und habe wie ein Maikäfer Schwierigkeiten, wieder auf die Füße zu kommen. Die Wanderstöcke versinken in der fluffigen Masse, auch mit den Händen kann ich mich nicht abdrücken, der große Rucksack macht alles nicht einfacher. Ich fühle mich hilflos, bin es aber nicht, denn Dani ist schon längst an meiner Seite und verrät einen Trick: Auf die Knie drehen, dann kann man aus der Hocke wieder zum aufrechten Gang kommen. Klappt wunderbar.
Gemeinsam klettern wir zu den anderen auf den Pass, sie lachen und zeigen mir ihre Fotos. Wer den Schaden hat... Aber dieser Ausrutscher kann niemanden die Laune verderben. Das Panorama ist grandios. Die Sonne taucht alles in ein warmes Licht, der Himmel so unverschämt azurblau wie es ihn nur in den Alpen gibt, da hinein ragen die felsigen Bergspitzen mit warmen Brauntönen, darunter alles wie von Milchschaum überzogen.
An so ein Panorama war gestern nicht zu denken. Sonnenschein, Plusgrade, kein Schnee. Wir hatten uns an der Postbushaltestelle im malerischen Dorf Guarda im Engadin hoch über dem Inn getroffen. Aber Bergführer Dani war optimistisch, hängte allen sechs – Schweizer und Deutsche – eine Lawinensonde um, verteilte Steigeisen, Schaufeln samt Klappstiel und Klettergurte. Die Schneeschuhe behielten wir in der Hand, aber nicht lange, denn auf einem Waldweg am Dorfrand hatte sich tatsächlich der Schnee gehalten. Vier Tage von Hütte zu Hütte liegen vor uns, über drei Gletscher werden wir wandern. Aufregend.
Anfangs gehen wir moderat bergauf durch einen Wald alter Lärchen, deren nadelloses Geäst im Wind leicht säuselt. Nach zweieinhalb Stunden gibt es keinen Baum und keinen Strauch mehr, dafür aber viel Schnee. Wir sind über 2.000m und blicken in das Tuoi Tal, das Bergriesen umgeben. Ein leichter Sturm kommt auf, Sonne und Wolken jagen sich am Himmel, am Boden wirbeln eisige Schneekörner hoch, für das Gesicht ein Naturpeeling.
Die Tuoi-Hütte (2.250 m) ist schon zu sehen, allerdings werden die letzten Kilometer etwas anstrengender, der Pulverschnee ist angetaut, klumpt unter den Schneeschuhen und macht sie schwer. Am späten Nachmittag erreichen wir verschwitzt und glücklich die Hütte, die ganz nahe am Piz Buin (3.312m) liegt.
Am nächsten Morgen starten wir um 8:30 Uhr, 0 Grad, Sonnenschein. Unser Etappenziel, der Vermunt-Pass sieht sehr nah aus, aber noch trennen uns rund 650 Höhenmeter. Dani zieht in Serpentinen eine Spur im unberührten Schnee. Alle folgen mit langsamen Schritten, konzentriert, schweigsam, fast meditativ. Man hört nur das Knirschen des Schnees. Wenn wir Pause machen und stehen, hört man nichts, keinen Vogel, keinen Bach, keinen Wind – nur Stille.
Nach zwei schweißtreibenden Stunden – und meinem kleinen Abgang – erreichen wir den Pass. Auf 2.798 Metern Höhe blicken wir auf den Vermunt-Gletscher, der sich in das Tal ergießt. Der Gletscher ist als solcher nicht erkennbar, eine Schneedecke liegt in sanften Wellen über dem Eis, unglaublich schön. Da wir über einen Gletscher laufen, müssen wir eine Seilschaft bilden. Wir haben schon am Morgen den Klettergurt mit den zwei Karabinern um die Beine und die Hüfte angelegt. Dani verbindet uns nun im Abstand von rund 8 Metern mit einem dicken, blauen Seil. Mögliche Gletscherspalten sind derzeit nicht sichtbar und sollte die Schneebrücke über der Spalte nicht halten, könnte man herabstürzen.
Highlight des Tages ist das Gletschertor, das Dani entdeckt. Von außen war nur ein Spalt zu sehen, groß genug, um durchzugehen, dahinter ein Gewölbe aus Eis, drei bis fünf Meter hoch, weißbläulich schimmernd – das Ende der Gletscherzunge. Wir fotografieren die geheimnisvolle Kammer, aber nichts ist besser als die Wirklichkeit.
Mittags erreichen wir die Wiesbadener Hütte, verdrücken Berge von Kaiserschmarrn, Topfenstrudel und Wiener Schnitzel, genießen in den Liegestühlen die Wintersonne und den Anblick der Silvretta-Berggruppe, deren spitze Gipfel sich aneinanderreihen wie die Zacken auf dem Rücken einer Urzeitechse.
Früh um 8:00 Uhr glitzern die Schneeflächen in der Sonne als hätten Bergelfen Sternenstaub verstreut. Heute passieren wir zwei Gletscher, staken mit Steigeisen wie Störche einen dick verschneiten Hang hinunter und meistern die Aufstiege zu zwei Pässen in 3.000 m Höhe. Die Aussicht ist überwältigend. Wenn man sich um die eigene Achse dreht, sieht man ringsum bis zum Horizont schneebedeckte Täler und Berge, deren Gipfel wie dunkle Kissenzipfel in den Himmel ragen. Am Ende sind wir wieder in den Schweizer Alpen und verbringen die Nacht in der Silvretta Hütte.
Am letzten Tag hängen die Wolken tief, alles ist in diffuses graues Licht getaucht, was auch seinen Reiz hat. Wir steigen ab und erreichen mittags im Sardasca-Tal die Ortschaft Monbiel bei Klosters – von Stille keine Spur mehr.
Bilanz nach vier Tagen: 37 Km, 2.150 Höhen- 2.500 Abstiegsmeter, zwei 3000 m Pässe- ein großartiges hochalpines Abenteuer.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Stadtglanz Print-Ausgabe 30 / Frühling 2024.
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