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Lifestyle

1. März 2022

Braunschweig? Warum eigentlich nicht!

Die Attraktivität hat zugenommen

Von Christiane Heuwinkel, Dr. Anja Hesse

Zugegeben, der Anfang war schwer. Bei einem meiner ersten Ausflüge von Wolfsburg nach Braunschweig fiel mir an einer roten Ampel plötzlich das Navi in den Schoß, sodass ich vor Schreck die Bremse losließ und meinen Vorfahrer leicht touchierte. Den Schreck noch im Nacken fand ich nach langer Suche einen der raren Parkplätze in der Innenstadt. Das von mir gesuchte Bilderrahmengeschäft hatte jedoch, anders als auf der Homepage verkündet, montags geschlossen, sodass ich unverrichteter Dinge und finsteren Mutes zum Auto zurückging, das innerhalb meiner gefühlt zwei Minuten Abwesenheit bereits mit einem Knöllchen geschmückt war. Der rare Parkplatz war wohl keiner.

Die nächste geplante Station erreichte ich dann gar nicht mehr, weil durch eine große Pegida-Demonstration ein Teil der Innenstadt abgesperrt war. „Die wollen mich hier nicht!“, „Was ist da los?“ und „Will ich eigentlich dahin?“ waren meine spontanen Reaktionen. Nervlich durchaus angegriffen fuhr ich zurück ins beschauliche Wolfsburg. Es brauchte Trost, Zuspruch und viel Überredungskunst meiner in der Nachbarstadt lebenden Kolleginnen, bis ich bereit war, mich auf weitere Abenteuer in Braunschweig einzulassen und eine gewisse Zeit, diese Stadt auch schätzen zu lernen.

Leicht fiel es mir natürlich mit dem Theater, das mich neben seinem Programm auch mit seinen sensationell schönen Kronleuchtern im Foyer überzeugt. Das bezaubernde Ensemble Riddagshausen charmant zu finden und zu preisen, ist nun auch keine große intellektuelle Leistung, ähnliches gilt für den Richmond-Park mit seinem spätbarocken Schloss. In meiner Heimatstadt Bielefeld dagegen gibt es nur eine Richmond-Kaserne – 1:0 für Braunschweig!

Schwerer fällt es mir mit der Innenstadt, deren Stadtstruktur zu erkennen durch die Nachkriegsbauten nicht ganz leicht ist. Wie viele Städte in Deutschland ist auch Braunschweig von den Wunden des 2. Weltkriegs bis heute stark gezeichnet. Nun komme ich aus einer Stadt, der man die Bombeneinschläge durch die billigen Nachkriegszweckbauten bis heute ebenfalls ansieht, doch ist der Eindruck Braunschweigs im Vergleich zu Bielefeld ein collagehafterer, aufgerauterer. Bielefeld schmiegt sich immerhin an die sanften, grün bewaldeten Hügel des Teutoburger Waldes an – hier in der Ebene kann sich nichts anschmiegen.

Aber Rom oder Paris schön finden kann jeder Die versteckten, verdeckten, manchmal geradezu rührenden Kostbarkeiten inmitten des kruden Nebeneinanders singulärer Architekturen zu finden, ist vielleicht sogar interessanter. So entdeckte ich an der Gördelinger Straße ein maximal zwei Meter breites Tor – Relikt eines großzügigen Renaissancegebäudes als plötzlichen Hinweis auf die große Geschichte der Stadt, wie auch die Kemenaten, die unvermittelt aus der Jetztzeit hinaus ins Mittelalter führen. Lässt man sich auf die Idee der Stadt als Collage ein, wird Braunschweig immer interessanter, überraschen doch neben den Innenstadtparkhäusern (ja, die gibt es durchaus, auch wenn ich hörte, dass „der Braunschweiger“ sie gemeinhin mit Nichtachtung straft) die Fragmente mittelalterlicher Häuserzeilen, der wunderbare Altstadtmarkt mit seinem das hochmittelalterlichen zweiflügeligen Altstadtrathaus, das Gewand- und Zollhaus und vieles mehr. Durch Braunschweig zu spazieren bedeutet für mich, Teil-Niedersächsin seit zwei Jahren, immer noch, bei jedem Besuch etwas Neues, Überraschendes zu entdecken, vom Magniviertel bis zum Rizzi-Haus (wobei ich zugeben muss, das Erstere durchaus zu favorisieren). Wenn Sie mich demnächst leicht orientierungslos, aber gutgelaunt und hoffnungsvoll auf der Suche nach weiteren Kostbarkeiten durch die Stadt flanieren sehen, sprechen Sie mich an und zeigen Sie mir „Ihr“ Braunschweig. Ich bin zu Neu­entdeckungen bereit!

Ich finde an Wolfsburg schön, dass …

es möglich ist, dass zwei doch nicht ganz unwichtige niedersächsische Städte, Braunschweig und Wolfsburg, so dicht beieinander liegen können und sich dennoch keine Konkurrenz machen (zumindest kulturell nicht), sondern sich stattdessen auf doch bemerkenswerte Weise ergänzen.

Als Herzog Carl I. sein legendäres Kunst- und Natura­lienkabinett in Braunschweig anlegte, das spätere, schließlich 1754 eröffnete Herzog-Anton-Ulrich-Museum, hat er sicher nicht daran gedacht, geschweige denn sich vorstellen können, dass 240 Jahre später ein ebenso legendäres Kunstmuseum in Wolfsburg eröffnet werden würde. Diese beiden Häuser ergeben eine nachhaltige Symbiose: Ikonen der Kunstgeschichte in Braunschweig wie Rembrandts Familienbildnis auf der einen und Arbeiten berühmter zeitgenössischer Künstler – wie Mario Merz oder Anselm Kiefer – auf der anderen imKunstmuseum in Wolfsburg.

Seit seiner Gründung, das gebe ich offen zu, hat Wolfsburg für mich an Attraktivität unglaublich zugenommen, nehme ich die Stadt anders wahr und entdecke andere Seiten. Es ist schön, im Kunstmuseum zu sein – die Größe des Hauses erschlägt nicht, die Ausstellungen sind ausgewogen präsentiert und kuratiert.

In der Schublade einer Kommode bei uns zuhause liegen seit vielen Jahren Führerscheine, kleine Führerscheine unserer Zwillingstöchter. Als Kinderführerscheine deutlich erkennbar, aber in ihrer Anmutung für die ehemals kleinen Menschen ein „Dokument“ von unschätzbarem Wert. Diese Führerscheine haben meine Kinder, die im Übrigen auch begeisterte Kunstmuseumsbesucher sind, mit 6 Jahren in der Autostadt „gemacht“. Zunächst habe ich das Konzept mit Skepsis beäugt. Vor allem das Museumskonzept der Autostadt. Doch zählt die Autostadt schließlich nicht nur zu den Wolfsburger Architekturerrungenschaften, sondern ihr jährlich stattfindendes Festival hat das Konzept von Mobilität, Architektur und Kultur inzwischen bundesweit an die Spitze der Festivals katapultiert. Es ist für mich, die ich hier in Braunschweig für Kultur zuständig bin, beruhigend zu wissen, dass das Festival „Movimentos“ nur einige Wochen im Jahr stattfindet, ansonsten würden mich meine nachbarschaftlichen Neidkomplexe, die aber nur aus rein beruflicher Perspektive entstünden, um den Schlaf bringen. Aber soweit kommt es ja gar nicht erst – stattdessen große Vorfreude auf ein jeweils neues Festival. Dieses Format ist eine der wunderbarsten Bereicherungen für diese Region.

Bereicherung und Wagnis sind weitere Stichworte für das, was ich an Wolfsburg mag. Ich habe während des Baus und den damit einhergehenden Problemen des Phaeno immer und immer wieder den Mut der Stadt Wolfsburg bewundert, den spektakulären Entwürfen der inzwischen leider viel zu früh verstorbenen Architektin Zaha Hadid nicht zu trotzen, sondern sie willensstark umzusetzen. Den Mut, eine Architektin vom Format einer Zaha Hadid einzuladen, sie etwas in der norddeutschen Tiefebene bauen zu lassen, hatten nicht viele bundesdeutsche Kommunen und ich freue mich immer, wenn wir Gäste haben, mit ihnen auch genau wegen dieses architektonischen Wurfs nach Wolfsburg zu fahren, ihnen dieses spektakuläre, mitten in Wolfsburg gelandete „Raumschiff“ der gebürtigen Irakerin zu zeigen. Und bei Architektur darf natürlich Alvar Aalto nicht fehlen. Natürlich ein Klassiker, heute kann man fast sagen, ein „midcentury“-Klassiker, und auch das Kulturhaus darf bei Besuchen, als Lehrbeispiel für die Arbeitsweise des als „Vater des Modernismus“ geltenden finnischen Architekten, nicht fehlen. Auf wenigen Quadratkilometern hat man eine beispiellose Kette von architekturhistorischen „Perlen“, bis hin zum Schloss und seinem Garten. Auch wenn ich den schönen Schlosspark nur sehr selten besuche, die Städtische Galerie im Schloss hingegen steht immer auf dem Programm, wenn ich nach Wolfsburg fahre. Nicht zuletzt, weil ich das Programm von Susanne Pfleger sehr schätze.

Aus der Vogelperspektive betrachtet, liegen zwischen Wolfsburg und Braunschweig nur 24,82 km Luftlinie, genauso viel, wie zwischen Berlin-Mitte und Potsdam. Also, eine Entfernung, die für den Genuss von Kunst und Kunstgeschichte, für die Kultur schnell genommen ist. Beim Schreiben dieses Artikels habe ich mich gefragt, was ich von alledem am meisten mag. Nicht die Kunst; auch nicht die Lehrbeispiele moderner Architektur. Nein, es ist eine kleine Trattoria, Due Incontri, für die ich auch jenseits der Öffnungszeiten der Wolfsburger Museen und Ausstellungen nach Wolfsburg fahre. Vielleicht ist der Name des italienischen Restaurants symptomatisch – zwei Treffen. Genau: wegen der Kunst und der italienischen Kochkunst.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Stadtglanz Print-Ausgabe 1 / September 2016.

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