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Lifestyle

21. Januar 2022

Ruhe im Kiez

Ist es zu laut in Braunschweig?

Von Maximilian Burkhardt

Fotografie: Adobe Stock/Starot

Wie wichtig sind Clubs für das Leben einer Stadt? Wie ist das eigentlich in diesem „Kultviertel“? Dies sind Fragen von (bisher) geringer politischer Relevanz. Beklagen geht immer. Insbesondere, was das Freizeit-Angebot angeht. Selbstverständlich hat man damit oft Recht – nichts­destotrotz verfügt Braunschweig über eine sehr hohe Club-­Dichte im Verhältnis zur Einwohnerzahl der Stadt und insbesondere im direkten Verglich zu anderen (deutschen) Städten mit ähnlicher Population.

Hood Cotoure

Eine repräsentative Studie vor einiger Zeit ergab etwa, dass der Großteil der Studierenden die Auswahl ihrer Universität nicht an der Qualität der Studiengänge festmache, sondern „ob man dort etwas erleben kann“. Auch für die Wirtschaft der Region ist es attraktiver, mit einem Oberzentrum zu werben, in dem es eine Ausgeh-Szene im weitesten Sinne, eine Auswahl an Gastronomien gibt, die individuell frequentiert werden kann. Wir reden hier also explizit über Wirtschafts- sowie Standortfaktoren, die für Job- und Ortswahl ausschlaggebend sein können.

Im Angesicht des Erbrechens

Wenn auch viele Großstädte sich gerne offensiv mit ihrem reichhaltigen Ausgehangebot schmücken: Etwas dafür tun, inititativ agieren oder gar selbst entsprechende Rahmen­bedingungen schaffen – das machen nur die Allerwenigsten.Auch Braunschweig rühmt sich gerne mit der „lebendigen und abwechselungsreichen Gastronomie-Szene“.

Art aber herzlich

Seit einigen Jahren engagiert sich die Initiative bzw. der Verein „Kultviertel“ rund um den Bereich des ehemaligen Bahnhofsviertels, also zwischen Gülden-­Kiosk und Klaue, Friedrich-­Wilhelm-Platz, Sparkassen-Insel und Südstraße – nur ganz grob gesagt. In diesem Distrikt sind die meisten Clubs und Bars angesiedelt, 24h-Kneipen, der Rotlichtbezirk, weswegen das gesamte Quartier auch als Blaulichtbezirk bekannt ist, wo hinter vorgehaltener Hand ein Meth-Brötchen geschmiert wird und der Bordstein mit Zunge zurückküssen kann.

Skandal im Sharebezirk

Um Falk-Martin Drescher, Gesicht und gute Seele des Kultviertels, wurde nun die Idee eines „Nacht-Bürgermeisters“ initiiert und medial umgehend aufgegriffen. Die „Braunschweiger Zeitung“ titelte unlängst: „Er soll den Ärger durch nächtliche Ruhestörungen in den Griff bekommen. Andere Städte wie Amsterdam, Toulouse und Zürich machen es vor. „Amsterdam, Zürich, Barcelona, Braunschweig – eine Reihenfolge wie aus jeder Gucci-­Store-Auflistung. Institutionen dieser Art gibt es übrigens auch bspw. in New York oder London, keine Frage: Um gegen Wild-Pinkler/innen und Lärmbelästigungen vorzugehen, muss auch Braunschweig dringend nachziehen.

Potatoes gonna potate

„In Braunschweig kann sich ja echt niemand beschweren!“ – denkste! Das XO im Parkhaus an der Steinstraße musste schließen, weil sich ein Anwohner permanent beschwerte, aber auch nicht gesprächsbereit gegenüber Polizei und Gastronomen war, die berühmte „Mauer“ in der Südstraße wurde wegen einer geplanten Renovierung zu Luxus-Wohnungen zum Anwohner-­schutz entfernt. Allright – am unveränderten Gebäude lässt sich nach wie vor die Tafel mit der Inschrift „Baubeginn 2007“ bewundern. Das ATP-Turnier musste sich wegen Anwohner-­beschwerden massiv reduzieren, Stil vor Talent in der Okercabana komplett zurückziehen. Selbst das Festival Theaterformen (immerhin das internationale niedersächsische Theaterfestival, das jedes Jahr zwischen Braunschweig und Hannover pendelt) hat wegen eines Anwohners eklatante Einschränkungen im Festivalzentrum, da in der unmittelbaren Umgebung eine Person darauf besteht, im Sommer bei offenem Fenster zu schlafen.

Willst Du mit mir gähnen?

Anwohner/innenschutz ist wichtig – egal in welchem Stadtteil. Aber ist dieser Schutz wichtiger als derer, die die Gastronomien führen? Gibt es, in jeder Stadt, nicht auch für Nachtschwärmer/innen konzentrierte Bereiche? Bereiche, wo Menschen unter Umständen sogar wegen der Szene hinziehen, sich dann aber über ebendiese beschweren? Gibt es. Überpauschalisiert vom Prenzlauer-Berg-Effekt zu schreiben, ist weit übertrieben – deutschlandweites Clubsterben aber auch nicht von der Hand zu weisen. Die Gründe sind zweifellos vielfältig, mangelnder Schutz durch die Verwaltung gehört aber eben auch dazu.

„Eine Stadt ohne Nachtleben ist nicht dynamisch“

… sagt Amsterdams Nachtbürgermeister Mirik Milan. Milans erklärtes Ziel ist es, eine bessere Stadt zum Leben und zum Feiern zu schaffen. Eine Stadt, die nicht nur tagsüber, sondern auch nachts sicher ist und für alle etwas zu bieten hat. Beim Quartiersforum des Kultviertels im März wurde die Idee eines Nachtbürgermeisters für Braunschweig vorgestellt und fand großen Anklang: Anwohner/innen, Gastronom/innen sowie die Polizei waren für eine Podiumsdiskussion vertreten und zeigte den Bedarf auf. Ruhestörungen gibt es – wie schon erwähnt – immer wieder. Daher ist der Vorstoß von Falk-Martin Drescher bzw. des Kultviertels absolut zu begrüßen. Eine zwischen Bürger/innen, Anwohner/innen, Gewerbetreibenden sowie Polizei und Ordnungsamt vermittelnde Instanz zu installieren, ist eine riesige Chance – für die Anwohner/innen, für die Stadt, für die Wirtschaft, für die Gastronomie, für das Zusammenleben. Nachtleben bringt eben nicht nur Spaß, sondern auch Konflikte mit sich. Es geht zwar vor allem aber eben nicht nur um die Bars, Kneipen sowie Clubs, sondern auch um Geschreie, zerspiltternde Flaschen, achtlos weggeworfenen Müll und auch um Sicherheit in der Innenstadt. Und eben immer wieder: Ruhestörungen. Beim Quartiersforum des Kultviertels gab es eine Podiumsdiskussion mit Dr. Nicolas Petrek (The Deans & soldekk), Oliver Strauß (Strauß & Lemke GmbH), Lutz Käune (Polizei Braunschweig), Philip Brakel (Anwohner und Mitglied des Stadtbezirksrates Innenstadt) – die Meinungen waren einhellig und kurz zusammengefasst: Die Gastronomie würde gern auf die Anwohner/innen zugehen oder praktiziert dies bereits, benötigte für einen Konsens aber auch deren Mitarbeit oder wenigstens eine Gesprächsbreitschaft. Die Polizei ist als Exekutive letztendlich immer die regelnde Instanz, hat aber gerade am Wochenende anderes sowie auch Wichtigeres zu tun und freute sich über eine potenzielle mediierende Position.

Cornern Sport

Hinterzimmer statt Kinderzimmer? No! Der zunehmende Trend des „Cornern“, also die Beanspruchung öffentlichen Raums durch Personen zum gemeinsam Verweilen, unbedachtem Zusammensein unter freiem Himmel und offener Sternis, im Glas abgrundtiefer Gespräche – so wie früher auf dem Dorf im sozialem Zentrum Bushaltestelle – nur eben in der Stadt und ohne Haltestelle (meistens) –, führt zwangsläufig zu erhöhtem Geräuschpegel auf der Straße. Wie ist dieses Problem zu lösen? Wer in die Innenstadt zieht, insbesondere in bekannte Ausgeh- und/oder Feierbereiche, sollte einkalkulieren, dass es häufiger zu Ruhestörungen etwaiger Art kommen kann. Ich wohne in der Innenstadt und arbeite unter anderem von Donnerstag bis Sonntag morgen nachts – im Innenhof gegenüber befindet sich eine KiTa – wer muss hier nun auf wen Rücksicht nehmen? In der Abend- und Nachtgastronomie hängen sehr viele Arbeitsplätze, mitunter mehr, als man sich für den Moment so denken kann. Wer hat muss bei meinem persönlichen Beispiel Nachtarbeit vs. KiTa auf wen Rücksicht nehmen? Für mich ist es ganz einfach: Jede/r auf jede/n. Immer. So sieht zumindest meine Utopie aus.

Nachts sind alle Atzen blau?

Die Idee eines Nachtbürgermeisters in Braunschweig ist großartig. Mit ihr können Chancen für das Zusammenleben im Zentrum der Stadt sowie für eine befreite Gesellschaft und ein solidarisches Mit­einander nicht nur entstehen, sondern auch kommuniziert und manifestiert werden. Für die Wirtschaft, für die Gastronomie, für Stadt, Region und uns alle. Feiern ist Instagram fürs Volk, undurchdacht, unvernünftig und unkompliziert. So soll es bleiben – aber geil, wenn jemand den schmalen Grat zwischen Sucht & Ordnung bei einem Alkopop und einem Mehr-Augen-Gespräch vermitteln kann.

Nettofaust für diese Initiative ans Kultviertel!

 

Dieser Artikel erschien in der 15. Ausgabe des Stadtglanz Printmagazins.

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