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Lifestyle

4. April 2023

Ich konsumiere, also bin ich?!

Produzieren und Konsumieren in der kooperativen Webgesellschaft. Ist Konsum gut oder böse?                 

Von Dr. Gerald Fricke

Fotografie: fotolia: mila_1989 / Gudrun Zwilgmeyer

„Weder noch“, sagt Gerald Fricke. „Es geht immer weniger um das Besitzen materieller Güter und immer mehr um die vernetzte Nutzung und den Zugang zu gemeinsam geteilten Erlebnissen. Und um die Weltrettung. Wenn wir das wollen.“

Unser Konsum ist nicht immer und überall hoch angesehen. Aus kulturpessimistischer Sicht gilt er als unfeines Verhalten unreifer Individuen, als letzter Trick des Weltkapitalismus, um uns ­einzulullen und ruhig zu stellen. Auf der anderen Seite könnten wir uns durch „bewusstes Shoppen“ nicht nur besser fühlen, sondern sogar eine gerechtere Welt mit nachhaltigeren Produktionsbedingungen schaffen, so die fröhlichen Hedonisten. Einen Schritt weiter gehen Interpreten, die unser Konsumieren gänzlich von der materiellen Basis lösen. Wir kaufen in dieser Sicht nicht in erster Linie stoffliche Gegenstände wie T-Shirts, Kaffeekapseln oder Trüffel-Salamis, sondern Eintrittskarten zu Erlebnissen. Und das Versprechen auf Erfüllung unserer Bedürfnisse.

Die Große Transformation

Keine Frage, es geht um mehr als das Kaufen eines neuen Turnschuhs, den wir aus rein praktischen Erwägungen für unseren Sport brauchen. Unsere wichtigsten sozialen Bedürfnisse heißen Anerkennung und Respekt im Kreise Gleichgesinnter. Heute erleben wir die Große Transformation der Massengesellschaft, die durch Massenproduktion, Massenkonsum und die großen Einheiten geprägt ist, zu einer vielfältigen und vernetzten (Web-)Gesellschaft, mit bedeutenden Auswirkungen auf unser Leben und Arbeiten. Nintendo bietet uns mit Pokémon Go einen Ausblick darauf, wie wir alle in einigen Jahren uns unterhalten und einkaufen werden, so unsere Vermutung. Mit den Freunden vernetzt, von unterwegs aus, situationsbezogen. Wir lassen uns in den Gesprächen oder von der Umgebung inspirieren, neue Wünsche werden geweckt. Und dann fangen wir keine Monster ein, sondern zum Beispiel einen besonderen Turnschuh, den wir gerade beim Streifzug durch den Park an den Füßen der Skater sehen. Wir greifen in das virtuelle „Regal“, betrachten unsere Beute, zeigen sie unseren Freuden, beratschlagen uns – und kaufen ein. Wenn wir nach Hause kommen, ist der Schuh womöglich schon da.

Vom Besitzen zum Nutzen

Ganz allgemein wird es weniger darum gehen, Produkte zu verkaufen, zu vermarkten und zu besitzen, sondern immer mehr darum, Vernetzungen zu nutzen und Zugänge zu neuen Dienstleistungen zu organisieren. Automobil-Hersteller
werden also immer mehr mobile Dienstleistungen anbieten.
In unterschiedlichen Situationen haben wir unterschiedliche mobile Bedürfnisse und Wünsche. Für die Stadt brauchen wir ein Fahrrad, für den Urlaub einen Bus und einige Sonntage
im Jahr auch das Cabrio. Aber nicht nur das: Wir möchten mit anderen Menschen zusammenkommen, uns während der Fahrt unterhalten lassen oder in Ruhe arbeiten. Und dafür möchten wir auch noch angemessen viele Likes von unseren Freunden bekommen. Der Anbieter, der es am besten schafft, diese vielfältigen Bedürfnisse individuell anzubieten, wertvolle Ökosysteme um das eigentliche Produkt herum zu stricken, unsere Zugänge und Vernetzungen am besten organisiert, wird die größte Dividende einfahren.

Das können wir gut oder schlecht finden, aber wenn wir kulturpessimistisch bei einer moralischen oder ästhe­tischen Konsum-Kritik stehen bleiben, dann übersehen wir diese Dynamik und vergeben uns die Möglichkeit, das ent­stehende neue wirtschaftliche Modell in unserem Sinne mit zu gestal­ten. Erzählen wir am besten Geschichten gelungener Zusammen­arbeit. Es geht um die vernetzte Nutzung und den Zugang zu gemeinsam geteilten Erlebnissen. Um Sinnstiftung und die Weltrettung. Wenn wir das wollen.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Stadtglanz Print-Ausgabe 02 / Dezember 2016.

 

 

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