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Corona-Pandemie Einschätzungen zu Entwicklung und Perspektiven
Von Timo Grän
Grän: Sehr geehrte Herren, wir sind mitten in der Pandemie, und das nach fast 2 Jahren, haben wir nichts dazugelernt?
Keese: Innerhalb der Kliniken und Praxen haben wir inzwischen unsere Routinen und qualitätssichernden Maßnahmen adaptiert. Jedoch scheinen weder in der Politik noch in den verwaltenden Strukturen (Gesundheitsämtern etc.) die Lernkurven signifikant zu steigen, sodass die Coronapandemie nach wie vor gnadenlos die Schwachstellen unseres Systems offenlegt. Die Bögen für meldepflichtige Infektionskrankheiten müssen immer noch per Hand ausgefüllt und in den Ämtern dann abgetippt werden, obwohl Digitalisierung eines der Lieblingsworte der Politik ist.
Rottner: Ich stimme zu und kann mir nicht verkneifen, ein Bespiel aus meinem Kollegenkreis zu erzählen: Eine neu einzustellende Mitarbeiterin aus China muss sich nach drei erfolgten Impfungen in ihrem Heimatland nun hierzulande einer vierten und fünften Impfung unterziehen, obwohl der gleiche Impfstoff im EU-Land Ungarn routinemäßig verimpft wird. Und nicht nur das, sie muss sich zudem tagtäglich vor der Arbeit einem offiziellen Negativtest unterziehen aufgrund der neu eingeführten 3G-Regel am Arbeitsplatz (siehe unten), also da würden mir schon Menschen einfallen hierzulande, bei denen eine Impfung dringender vonnöten wäre als bei einer dreifach immunisierten Wissenschaftlerin aus China. Aber bürokratische Einzelfälle außen vor: Auch mich hat die Dynamik der Ereignisse der letzten Wochen und Tage gehörig überrascht, vor allem unter dem Gesichtspunkt eines inzwischen bestehenden Impfschutzes einer klaren Bevölkerungsmehrheit, auch wenn diese Mehrheit leider immer noch nicht ausreicht (siehe unten). Zudem erfahren wir nun von einer womöglich noch ansteckendere Virusvariante aus Südafrika, mit Namen Omikron, von der wir natürlich hoffen, dass sie nicht wesentlich dem schon bestehenden Immunschutz der Bürger entgehen kann.
Grän: Könnten Sie bitte kurz genauer Stellung nehmen zu den jüngst eingeführten Regelungen (Stichtag 24.11., Anm. der Redaktion), also 3G in Betrieben, 2G in Gastronomie und Freizeit, 2G+ als Verschärfung? Kann das die Bevölkerung noch nachvollziehen – und was bringt das?
Rottner: 3G, also Zutritt nur für Geimpfte, Genesene oder negativ Getestete, hat im Sommer und Frühherbst (vor allem als die Impfungen noch relativ frisch waren, und die Inzidenzen insgesamt überschaubar) recht gut funktioniert, aber wieviel 3G am Arbeitsplatz bei Inzidenzen von über 400 noch verändern kann, sei dahingestellt. 2G (Zutritt nur für Geimpfte und Genesene) ist aus infektionsepidemiologischer Sicht mit Sicherheit wirksamer, und wenn man das schon macht, spricht eigentlich sehr wenig dagegen, das gleich mit einem negativen Schnelltest zu verknüpfen (also 2G+). Jedoch ist zu beachten, dass 2G automatisch die Gruppe der Ungeimpften ausschließt, was natürlich einem Lockdown für Ungeimpfte gleichkommt.
Keese: Prinzipiell zielen diese Maßnahmen darauf, für ungeschützte Menschen ein sicheres Umfeld zu gewährleisten. Inwieweit sich dieser Anteil künftig vermindert, wird sicher auch durch die abklingende Wirkung der Impfstoffe und die Entstehung neuer Virusvarianten beeinflusst (Stichwort Omikron), aber er wird sich verringern müssen.
Grän: Würden Sie also der Aussage zustimmen, dass eher Ungeimpfte vor Geimpften Angst haben sollten als umgekehrt??
Keese: Grundsätzlich ja, wenn Geimpfte sich unerkannt infizieren und unbemerkt das Virus verbreiten. Die Impfung trägt ja dazu bei, dass der Krankheitsverlauf eher milder verläuft.
Rottner: Ja, auch ich erlebe in meinem unmittelbaren Umfeld, dass viele Ängste auch bei Geimpften vorherrschen, die übertrieben sind, und dass umgekehrt viel zu viele Ungeimpfte sich in der trügerischen Sicherheit wiegen, sie wären nicht betroffen oder könnten sich nicht anstecken und wenn doch, dann würden sie ohne größere Schwierigkeiten davonkommen.
Grän: Heißt das dann auch, Sie würden für eine Impfung möglichst aller Bevölkerungsgruppen plädieren, auch solcher, die nach wie vor Bedenken haben, wie vielleicht Schwangere, oder für welche die derzeit am Markt verfügbaren Impfstoffe noch gar nicht zugelassen sind, wie Klein- und Kleinstkinder etc.? Und wie stehen Sie zu Booster-Impfungen?
Rottner: Aus wissenschaftlicher Sicht sollten wir möglichst alle Teile der Bevölkerung so schnell wie möglich impfen; das wird letztendlich der Schlüssel sein für eine Rückkehr in unsere gewohntes, freiheitliches Leben. Diese Gruppe schließt natürlich auch schon heute Schwangere (abgesehen vom 1. Schwangerschaftsdrittel) mit ein, da diese dann nach Geburt ihres Kindes über die Muttermilch ihren Säuglingen gleich den benötigten Immunschutz mitgeben können. Dies umfasst aber natürlich auch Frauen mit Kinderwunsch, denn jegliche Bedenken seitens dieser Gruppe sind vollumfänglich unbegründet, sowie Kleinstkinder und Säuglinge ab 6 Monaten, für die z.B. der mRNA-Impstoff Comirnaty von Biontech/Pfizer sich in reduzierter Dosis bereits im fortgeschrittenen Studienstadium befindet. Und zu Booster-Impfungen nur noch eine Zahl: Man geht heute davon aus, dass sich die Menge an schützenden Antikörpern nach Booster-Impfungen mit den mRNA-Impfstoffen verzehnfacht verglichen mit den Werten nach der Zweitimpfung.
Die derzeitige Durchimpfungsrate reicht nicht aus, um auf Maßnahmen wie 2G/3G in der kalten Jahreszeit zu verzichten.
Keese: Aus medizinischer Sicht wäre ein Impffortschritt sicher die Voraussetzung, Intensivstationen zu entlasten. Ob dazu die Impfung von Kindern gehört, wage ich zu bezweifeln, zumal diese vermutlich in ihrem Umfeld (Kindergarten/Schule) früher oder später Kontakt mit dem Virus haben werden.
Grän: Sollten also Entscheidungsträger Ihrer Meinung nach darüber nachdenken, Nicht-Geimpfte von bestimmten Aktivitäten auszuschließen oder ihren Status gar zu sanktionieren – Stichwort: Teil-Lockdown für Ungeimpfte?
Keese: Ich denke, dass diese Entscheidung zu spät kommt. In den Sommermonaten, als die Impfmotivation drastisch nachließ, wäre ein geeigneter Zeitpunkt dafür gewesen.
Rottner: In Österreich wurde Mitte November bei besorgniserregenden Zahlen ein Teil-Lockdown versucht, aber sehr schnell durch einen kompletten Lockdown ersetzt, da so gut wie nicht überprüfbar, auch wenn derzeit angekündigt wird, dies ab Mitte Dezember zu wiederholen. Wir werden sehen, wie erfolgreich das sein wird. Meine Sorge ist, dass Teil-Lockdowns die allseits beklagte Spaltung der Gesellschaft hier wie dort noch weiter befördern werden, und die Infektionslage wenig verbessern durch Verlagerung der gesellschaftlichen Kontakte bestimmter Gruppen (vor allem der Ungeimpften) ins Private und Geheime!
Die Hoffnung, dem Virus ohne Impfung zu entgehen, ist trügerisch und wird mit zunehmender Pandemiedauer immer unwahrscheinlicher.
Grän: Was sind die wichtigsten, und vielleicht auch nachvollziehbaren Gründe von Menschen, sich derzeit immer noch nicht impfen zu lassen?
Keese: Für viele ist die Politik – angefangen mit den widersprüchlichen Aussagen (… ist mit einer Grippe vergleichbar) und unglücklichen Fotos von Politikern ohne Maske und Abstand bis hin zu den handfesten Affären (Maskendeals und Personalentscheidungen im Gesundheitsministerium) – ein wesentlicher Grund, nicht mehr zu vertrauen und sich andere Informationsquellen zu suchen. Die Bedenken gegen die neuen Impfstofftechnologien sind für mich sehr gut nachvollziehbar. Ich verstehe dann allerdings nicht, dass in der Abwägung von Ängsten das Virus siegt. Vermutlich findet aber genau hierbei keine rationale Abwägung statt, und es wird der trügerischen Hoffnung geglaubt, man könne diesem Virus entgehen, obwohl die Chance auf eine Infektion an jedem Tag des Lebens in der Gegenwart und in der Zukunft besteht.
Rottner: Bei zunehmender Verschärfung der Lage schwindet mein Verständnis für die Gründe, sich nicht impfen zu lassen, aber auch mein Ärger über Fehlkommunikation und Panikmache (von allen Seiten). Angst ist immer ein schlechter Ratgeber, und ich möchte noch kurz zu den von Impfskeptikern oft aufgeführten, (noch) fehlenden Langzeitstudien Stellung nehmen: Diese würde man im Falle der Corona-Impfungen kaum ernsthaft benötigen, denn direkt durch Impfstoffe ausgelöste Langzeitfolgen sind aufgrund des schnellen Abbaus der Impfstoffe im Körper (nach wenigen Wochen) faktisch auszuschließen. In der Vergangenheit und bei anderen Krankheiten hat die Erkenntnis von mit Impfungen in Verbindung gebrachten Nebenwirkungen aufgrund der vergleichsweise geringen Impffrequenz statistisch oft längere Zeit in Anspruch genommen (deshalb Langzeit-Studien); dies ist bei den weltweit mittlerweile ca. 7,5 Mrd. verabreichten Corona-Impfdosen wohl kaum nötig! Die allseits beklagte Impfskepsis ist übrigens nicht auf das Coronavirus beschränkt, und reicht in Deutschland bis ins späte 19. Jahrhundert zurück. Wir müssen dies überwinden und nach über 100.000 Toten alle Hebel in Bewegung setzen, um nach durchgestandener 4. Welle die Nächste spätestens im Herbst/Winter 2022 möglichst klein und unbedeutend werden zu lassen.
Grän: Wird dies nur mit einer Impfplicht, so wie sie jetzt bereits diskutiert wird, zu bewerkstelligen sein, oder gibt es noch denkbare, alternative Wege aus der Pandemie?
Keese: Nein, mit einer Impfpflicht ist nichts gewonnen, aber viel weiteres Vertrauen verloren. Das ist für mich genauso wie in einer Diskussion, bei der der Schwächere plötzlich handgreiflich wird. Wieviel Prozent der Bevölkerung will man damit erreichen? Der Anteil der noch zu Impfenden verändert sich ja täglich mit der Pandemie. Schließlich ist der Anteil der nicht Immunisierten (nicht geimpft und nicht infiziert) entscheidend und der verringert sich mit jeder Neuinfektion, zumal Neuinfektionen unter den nicht Geimpften um ein Vielfaches höher sind. Idealerweise bleiben dann nur noch wenige Prozent über, die dann auf das Erkrankungsgeschehen keinen relevanten Einfluss haben.Wohnen, Arbeiten, Treffen, öffentliche Funktionen, einem Ort, dem man/frau sich annehmen kann, der aktiv mitgestaltet werden kann. Nicht nur passives Konsumieren, sondern vielmehr eine produktive Interaktion.
Rottner: Das wäre schön. Eine Impfplicht klang für mich bislang immer nach einem radikalen Weg, aber ob es ausreichen wird, den immer noch zu großen Kern an Skeptikern nur mit Überzeugung und Anreizen umzustimmen, erscheint mir jeden Tag unwahrscheinlicher.
Timo Grän
Herausgeber des Stadtglanz und der Service-Seiten. Verbrachte seine ersten Lebensjahre in Sambia und Botswana, bevor er Kind dieser Region wurde. Seitdem ein Förderer des Regionspatriotismus.
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