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Wirtschaft

14. Dezember 2020

Woran erkennt man eine Lügengeschichte?

Diese Kriterien können Anhaltspunkte liefern

Von Roland Schulte Holthausen

(Fotografie: Adobe Stock/WavebreakmediaMicro)

Woran erkennt man eine Lügengeschichte? Eine Frage, die man als Strafverteidiger häufig gestellt bekommt und die in der Praxis sehr wichtig ist – mitunter entscheidend dafür, ob der eigene Mandant zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt oder freigesprochen wird.

In der Tat steht in vielen Strafverfahren Aussage gegen Aussage oder es kommt jedenfalls entscheidend auf die Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage an. Insbesondere in sog. 4-Augen-Konstellationen (Beispiel: Eine vorgeworfene Vergewaltigung, bei der Opfer und Täter allein sind), kann ein richtiges Urteil ohne genaue Prüfung der Aussagen nicht gefällt werden. Bedenkt man die Bedeutung, die die Glaubwürdigkeit von Zeugen und die Glaubhaftigkeit solcher Aussagen hat, wird schnell deutlich, dass auf die Schulung von strukturierter Vernehmung und Feststellung der Glaubhaftigkeit von Aussagen kaum genug Wert gelegt werden kann.

In Rechtsprechung und Literatur haben sich zahlreiche Merkmale herausgebildet, die dem Rechtsanwender helfen sollen zu erkennen, ob ein Zeuge oder Angeklagter lügt oder die Wahrheit sagt.

Zunächst sollten Vernehmungspersonen Zeugen stets frei erzählen lassen; so kann beispielsweise festgestellt werden, ob ein Zeuge grundsätzlich eher eine ausführliche, „blumige“ Erzählweise hat oder nur das Nötigste angibt. Da Fragen von Vernehmungsbeamten auch geeignet sein können, die Erinnerung von Zeugen stark zu lenken, ist die freie Rede für die Feststellung wichtig, woran sich ein Zeuge wirklich noch selbst erinnern kann.  Die folgenden Kriterien sind nicht schematisch anzuwenden, geben aber gute Hinweise: So können beispielsweise vorhandener Detailreichtum und Widerspruchsfreiheit in einer Aussage stets als Kriterien angesehen werden, die für die Glaubhaftigkeit einer Aussage sprechen. Das Fehlen dieser Kriterien wiederum muss nicht zwingend gegen die Glaubhaftigkeit einer Aussage sprechen: Wie bereits festgestellt gibt es Personen, die Geschehnisse knapp und detailarm schildern - ohne dass diese Zeugen lügen. Es ist auch zu berücksichtigen, dass Zeugen mitunter das erste Mal in ihrem Leben vor Gericht aussagen müssen, sich vielen Fragen ausgesetzt sehen und mitunter von Staatsanwaltschaft oder Verteidigung hart angegangen werden; die dadurch verursachte Aufregung mag zu Widersprüchen in der Aussage führen - ohne dass die Zeugen lügen.

Weitere Gesichtspunkte, die es bei der Bewertung einer Aussage zu berücksichtigen gilt, sind u.a.:

Handlungskomplikationen

Hierunter versteht man unerwartet auftretende Hindernisse in der Schilderung eines Zeugen. Beispiel: „Nach dem Überfall wollte ich aus dem Keller raus. Ich habe jedoch die Tür zum Treppenhaus nicht aufbekommen. Ich weiß nicht, ob sie abgeschlossen war, oder ob sie nur geklemmt hat. Ich bin dann durch das Fenster gestiegen“.

Geschilderte Handlungskomplikationen können ein Anzeichen für eine wahre Aussage sein. Denn zum einen lassen sie sich unter Umständen nachprüfen (gibt es eine abschließbare /klemmende Tür zum Treppenhaus?). Zum anderen tendieren die meisten lügenden Menschen dazu, möglichst schnell zum Ende ihrer Aussage gelangen zu wollen bzw. wieder zu dem Teil der Aussage zurückkehren zu können, der der Wahrheit entspricht. Eine Komplikation ist schwer simulierbar und viele Personen, die lügen, werden nicht auf die Idee kommen, noch eine Komplikation in den geschilderten Ablauf einzubauen.

Überflüssige oder ungewöhnliche Details

Beispiel: „Er schlug mich, ich fiel in die Pfütze, das Wasser fühlte sich kalt an.“ Die Information, dass das Wasser kalt war, ist unnötig und trägt den geschilderten Sachverhalt nicht voran, spricht aber für tatsächlich Erlebtes.

Spontane Verbesserung und Eingeständnis von Erinnerungslücken

Eine Person, die die Unwahrheit sagt, wird weniger dazu tendieren die eigene Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen. Sie wird stattdessen eher trotzig reagieren.

Ungeordnete Erzählweise

Eine ungeordnete Erzählweise ist ein Hinweis auf die Schilderung tatsächlicher Erlebnisse. Denn eine Person, die sich eine Geschichte ausdenkt, wird dazu tendieren, diese chronologisch erzählen zu wollen, um nicht durcheinander zu kommen. Durch Fragen der Vernehmungsperson, die im zeitlichen Ablauf „springen“ bzw. immer wieder an anderen Stellen der Schilderung ansetzen („Jetzt erzählen Sie doch bitte noch mal ab dem Moment, wo Ihre Frau die Küche verlassen hat“), lässt sich eine solche Person unter Umständen in Widersprüchlichkeiten verstricken. Eine Person, die die Wahrheit erzählt, wird dagegen einen Handlungsverlauf auch bei Sprunghaftigkeit und scheinbar fehlender Struktur zu einem stimmigen Ganzen formen können.

Ausflüchte im Vortrag; insbesondere Ausführungen wie z.B. „üblicherweise“ oder „sonst immer“.

Beispiel: „Wie lange waren Sie denn auf der Toilette?“ „Blöde Frage. Wie lange dauert so etwas? Vielleicht drei Minuten.“ Eine Person, die die Wahrheit sagt, wird eher dazu tendieren, die gestellte Frage genau beantworten zu wollen und darüber nachdenken, wie lange ungefähr sie in dem konkreten geschilderten Fall auf Toilette war. Eine Person, die die Unwahrheit sagt, wird eher auf allgemeine Erfahrung abstellen oder darauf verweisen, wie etwas üblicherweise ist.

Inschutznahme des Täters und Selbstbelastung

Bei einer falschen Aussage kann die Absicht bestehen, eine andere Person zu Unrecht als Täter zu bezichtigen. Eine Inschutznahme des Täters wäre in so einem Fall kontraproduktiv und ein Anzeichen für die Wahrheit einer Aussage.

Brüche im Verhalten oder Auftreten

Ein übermäßig selbstbewusstes oder unsicheres Verhalten (Herumwackeln auf dem Stuhl, Meiden von Blickkontakt, Zittern usw.) gibt für sich genommen wenig Aufschluss darüber, ob eine Person die Wahrheit sagt oder nicht. Schließlich kann ein solches Verhalten dem Charakter einer Person oder ihrer Aufregung oder emotionalen Betroffenheit geschuldet sein. Für die Bewertung der Aussage wird ein solches Verhalten aber relevant, wenn ein „Bruch“ in dem Verhalten der Aussageperson gegeben ist: Eine Person beispielsweise, die anfangs, insbesondere bei der Schilderung der Vorgeschichte bzw. des Randgeschehens, selbstbewusst auftritt, dann aber, wenn sie zum Kern ihrer Aussage kommt, auf einmal unsicher wird, mag die Unwahrheit sagen.

Steifes vortragen oder Wesensveränderung

Als Beispiel mag dieses Video einer Aussage dienen, die erwiesenermaßen gelogen war:

Die im ersten Teil des Videos wahrheitswidrig geschilderten Tatsachen werden mit versteinerter Miene vorgetragen und wirken unnatürlich. Im zweiten Teil dann - die wahre Aussage - wirken sie authentisch, Herr Daum wirkt wie ausgewechselt. Dieses Video zeigt aber auch, wie schwierig die Feststellung der Kriterien ist: Natürlich ist es mit Blick auf den zweiten Teil der Aussage einfach, festzustellen, dass die erste Aussage gelogen war. Die versteinerte Miene in der ersten Version hätte aber auch einfach der Anspannung und der emotionalen Belastung in der Situation geschuldet sein können.

Nach alledem wundert es einen im Grunde genommen nicht, dass das Ergebnis nahezu jeder Fortbildung zum Thema Aussagepsychologie ist, dass Zeugen - entgegen weitverbreiteter Vorstellung - ein verhältnismäßig schwaches Beweismittel sind. Dies wird auf den entsprechenden Fortbildungen unter Nennung unzähliger Beispiele belegt.

Machen Sie doch einfach auch mal mit:

Wecken Sie einmal eine Ihnen nahestehende Person aus einer Tiefschlafphase. Achten Sie darauf, die Person vorsichtig zu wecken, damit kein Adrenalin ausgeschüttet wird. Es kann - je nach Person - Minuten dauern, ehe diese in der Lage ist, die Situation zu erfassen und adäquat zu reagieren. Ein einfaches Beispiel dafür, wie sich das menschliche Gehirn durch „einen Tüddel“ bringen lässt. Das Hauptmerkmal, an dem juristische Laien in Alltagssituationen bei Mitmenschen misstrauisch werden sollten und auf eine mögliche Lüge schließen können, ist ein Merkmal, dass vor Gericht wenig Bedeutung hat: Lügt eine Person in alltäglichen Situationen, so empfindet sie regelmäßig übermäßigen Stress und unter Umständen auch  eine - in der Situation eigentlich unangemessene - Angst. Menschen sind verhältnismäßig gut darin, Stress und Angst, die sich vielfach beispielsweise in übertriebenen Gesten, dem Abwenden des Blickes etc. äußern können, bei ihren Mitmenschen festzustellen. Angst oder zumindest erheblicher Stress sind vor Gericht allerdings von untergeordneter Bedeutung, da in der Situation der Aussage vor Gericht – anders als bei der Lüge im Alltag – die aussagende Person regelmäßig ohnehin angestrengt und aufgeregt ist.

Roland Schulte Holthausen

Der Autor Roland Schulte Holthausen ist Strafverteidiger und Fachanwalt für Strafrecht mit Kanzleistandorten in Braunschweig und Salzgitter. Er hat bereits in zahlreichen großen und überregional medienträchtigen Strafverfahren verteidigt; nähere Informationen zu dem Verfasser und der Rechtsanwaltskanzlei unter www.strafverteidiger-salzgitter.de.

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