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Wirtschaft

1. Oktober 2019

„Innenstädte müssen zu Lieblingsorten werden“

Ein Interview mit Timo Herzberg

Von Falk-Martin Drescher

(Fotografie: Marlen Brandt Matthias Leitzke)

Ein vernetztes, zukunftsorientiertes, lebenswertes Herz der Stadt – das ist die Vision für den Nordkopf in Wolfsburg. Dabei gewinnt die Quartiersentwicklung an Fahrt: Für die Ausplanung des Innenstadt-Areals südlich und westlich des Wolfsburger Hauptbahnhofs wurde die SIGNA Gruppe als Projektentwickler des Gesamtareals und Investor gewonnen. Die beiden Partner SIGNA und Wolfsburg AG erarbeiten im nächsten Schritt ein Gesamtkonzept, über dessen Umsetzung am Ende der Rat der Stadt Wolfsburg und alle beteiligten Partner entscheiden.

Am Rande des Immobiliengesprächs Braunschweig-Wolfsburg bei der Wolfsburg AG stand Timo Herzberg, SIGNA-Vorstand, für ein Interview zu dem geplanten Großprojekt und Städten der Zukunft zur Verfügung.

Herr Herzberg, was war Ihr erster Eindruck von Wolfsburg?

Als ich das erste Mal in Wolfsburg am Hauptbahnhof ankam, habe ich erst einmal einen Schrecken bekommen. Ich sah diese kilometerlangen Parkplätze in der absoluten Innenstadtlage und war nicht sonderlich begeistert. Von der städtebaulichen Struktur her muss man sagen, dass man eine große Herausforderung vor sich hat. Autogerecht geplant – und ganz anders, als man es heute von vitalen Innenstädten erwartet. Im Kennenlernprozess habe ich dann schließlich sehr viel Positives gesehen. Auch der Austausch mit den handelnden Akteuren ist außerordentlich produktiv.

Andersherum betrachtet: Wie würden Sie den Reiz Wolfsburgs beschreiben?

Für die Projektentwicklung kann man von idealen Vorraus­setzungen sprechen. Warum? Weil nichts fertig ist, auch nicht in unserem Entwicklungsgebiet, das wir betrachten. Wir wollen Lagen schaffen, Potenziale heben. Da begeistert uns natürlich vor allem das Unfertige.

Wie kam es zu der Zusammenarbeit?

Wir sind vor allem durch den Volkswagen Konzern auf dieses Thema aufmerksam geworden, im weiteren Verlauf auch durch die Wolfsburg AG. Hinsichtlich der makro-ökonomischen und geo­grafischen Vorraussetzungen ist die Stadt kein typisches Spiel­gebiet für die SIGNA: Wir sind im Bereich der Projektentwicklung sehr stark auf Großstädte fokussiert, in Deutschland unter anderem München, Berlin, Hamburg und Düsseldorf. Dafür tun sich hier viele Chancen auf – etwa auch aufgrund der guten Verkehrsanbindung nach Berlin. Es gibt gute Bedingungen, um neue Investoren nach Wolfsburg zu bekommen.

Wie begeistern Sie die Investoren für die Stadt?

Das ist einerseits die infrastrukturelle Voraussetzung als Standortfaktor zu nennen, die hervorragende Ausgangsbedingungen bietet. Andererseits gibt es ein spannendes Umfeld an kreativen Unternehmen, technologienahen Unternehmen sowie freilich die Nähe zu einem Weltkonzern. Das ist auch ein interessantes Umfeld für Start-ups und Grown-ups.

Sie streben ein Quartier der Zukunft an. Wie kann ich mir das vorstellen?

Wir kommen nur unter der Bedingung nach Wolfsburg, genau das in der Konsequenz umsetzen zu können. Es reizt uns nicht, einfach „nur“ als Bauträger Büros oder Wohnungen zu bauen. Vielmehr ist gerade dieser städtebauliche Kontext und die Chance im Zusammenhang einer digitalen, vernetzen Stadt mit Mobilitätskonzepten der Zukunft. Wir wollen einen Prototyp der Stadtentwicklung aufzeigen – wie er für Klein- bis Mittelstädte in Europa Modellcharakter haben kann.

Wenn Sie die Mobilität der Zukunft auf einem weißen Blatt Papier planen können: welche Themen spielen da eine Rolle?

Ich denke, Wolfsburg hat hinsichtlich der Mobilitätslösungen – wie wir sie heute in anderen, urbanen Räumen finden – andere Voraussetzungen. Hier können wir davon ausgehen, dass der individuelle Verkehr, sprich der PKW-Verkehr, einen sehr hohen Stellenwert behalten wird. Ich glaube, dass alles andere in einem Umfeld von Volkswagen auch schwer zu erwarten wäre. Wobei unsere Vorstellung freilich auch in die Richtung anderer Mobilitätsansätze geht. Von unserer Entwicklung erwarten wir, dass sie Hub für Mobilität sein kann, in dem sich die unterschiedlichen Verkehre miteinander vernetzen. Vom PKW über Regionalzüge und Fahrräder bis hin zu Sharing-Diensten und autonomen Kleinbussystemen: Sie alle sollen Bestandteile eines übergeordneten Moblitätskonzeptes sein.

Innenstädte befinden sich in einem vielfältigen Funktionswandel. Welche Rolle kann sie in der Zukunft einnehmen?

Innenstädte müssen wieder zu Lieblingsorten werden. Die Innenstädte sind städtebaulich lange vernachlässigt, nahezu aufgegeben worden. Die Ansiedlung von modularen Konzepten am Stadtrand – von Wohnen über satellitenartige Büros bis zu Shopping-Centern – haben dazu geführt, dass die Stadtkerne in einer Art kannibalisiert wurden, was zu umfassenden Leerständen geführt hat. Letztendlich hat sie den Marktplatz-Gedanken in der City völlig zerstört. Wir erwarten hier, dass sich das durch den Fokus auf die Innenstadt – den wir für zukunftsträchtig halten – wieder ändern kann. Zu einer Innenstadt, die gleichermaßen jüngere und ältere Menschen in ihrer beruf­lichen und freizeitfokussierten Ausrichtung anzieht sowie Sozialkontakte stattfinden lässt. Junge Menschen wollen wieder zurück in urbane Strukturen und der gesellschaftliche Austausch ist wieder im Trend. Es ist wieder gefragt, sich zu treffen.

Kommen wir von urbanen Szenen zur Creative Class. Wie kann die Stadtentwicklung unterstützen?

Es ist grundsätzlich wichtig, dass man die künftigen Nutzer – seien es die Kreativen, Start-ups, Konzerne, Kunst- und Kultur-Szene, Institutionen & Co. – in diesen Prozess involviert. Gerade wenn man die Möglichkeit hat, etwas derart Großes entstehen zu lassen, ist es eine wichtige Bedingung, dass Authentizität vorhanden ist. Etwas Echtes. Und bloß kein Zirkus, keine Berlin-Kopie. Insofern ist Partizipation unheimlich wichtig. Erst dann entstehen nachhaltige Quartiere.

Welche Chancen sehen Sie an der Stelle für die Galeria-Karstadt-­Kaufhof-­Gruppe?

Wir sind an 320 Standorten mit unseren Warenhäusern vertreten. Damit prägen wir in all diesen Fällen auch Innenstädte – insbesondere mit Blick auf Klein- bis Mittelstände auch sehr, sehr stark. Deswegen beschäftigten wir uns unter anderem auch so stark mit Innenstädten; nicht einfach nur aus Projektentwicklersicht. Es geht um die Attrak-tivität der Innenstadt und die urbane Renaissance. Und damit um riesige Chancen. Auch in der Kombination von On- und Offlinehandel sowie der Integration von mehr Erlebnis und Gastronomie. Der Aspekt des „Versorgens“ wird dabei zunehmender online passieren.

Können Sie das Thema des Erlebnis­einkaufs an einem Beispiel festmachen?

Ich würde mir wünschen, dass unsere Kunden beim Betreten eines Warenhauses das Gefühl haben, sie würden zu ihrem Lieblingsitaliener kommen. Es muss sich wieder emotionalisieren und die Beratungskompetenz muss steigen. Das sind etwa Chancen für den stationären Handel gegenüber dem Online-Handel. Individualisierung sowie Regionalisierung sind ferner wichtige Schlagworte. Innenstädte sind dann austauschbar, wenn sie durch die immer gleichen Filialisten besetzt werden. Wir aber wollen einen Ort mit Strahlkraft schaffen – Wolfsburgs Visitenkarte im Wettbewerb mit anderen attraktiven Standorten.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Stadtglanz Print-Ausgabe 13 / Oktober 2019.

Falk-Martin Drescher

studierte Stadt- und Regionalmanagement und ist gelernter Quartiersmanager, engagiert sich selbst ehrenamtlich als Vorstandsvorsitzender des Braunschweiger Kultviertels. Im Medienbereich selbstständig, neben seiner journalistischen Tätigkeit als Konzepter, Moderator und im Bereich Influencer Relations aktiv. Mit dem The Dude-Newsletters (www.meett hedude.de) informiert er zudem jeden Montagmorgen über ausgewählte Events und Neuigkeiten aus der Region.

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