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Lifestyle

6. November 2020

Mein Leben ist ein Freestyle

30 Jahre MC RENE

Von MC Rene

(Fotografie: Privat Adobe Stock/muhammad, missbobbit, samuii, schab)

1990-2000
1,2,3 aus der Weststadt bis nach New York

Geboren 1976 in Braunschweig im Krankenhaus Celler Straße um 2:16 Uhr als Sohn einer Deutschen und eines Marokkaners begann mein Leben bereits früh zwischen den Stühlen. Das Gefühl, nicht wirklich der Deutsche oder der Marokkaner zu sein, sollte mich im Laufe meiner Kindheit bis zu meiner Jugend maßgeblich prägen und beschäftigen.

Um 1984 rum zog meine Familie in die Weststadt, wo ich die Grundschule Illmenaustraße besuchte und ab der 5. Klasse die Wilhelm-Bracke-Gesamtschule.

Wir spielten Baskeltball auf dem Tartanplatz der IGS bis der Hausmeister uns verjagte. Unser Ghetto, die Weststadt, war unser großer Abenteuerspielplatz voll mit Skatern, Asis und kleinen Möchtegerngangstern. Ca. 1989, im Jahr der Wieder­vereinigung, suchte auch ich die Freiheit wie David Hasselhoff und wurde infiziert durch den Hip-Hop-Virus aus Übersee. Am Anfang dachte ich noch, Rap sei eine Gruppe, war aber sofort fasziniert von der Idee, dass man statt zu singen auf einmal rhytmisch zu sprechen begann. Das wollte ich auch. Dann ging alles ganz schnell. Mit dem Schülerferienticket fuhr ich auf die ersten Hip-Hop-Jams in Niedersachsen. In Braunschweig entwickelte sich eine sehr agile Rap- und Cross­over-Szene mit Gruppen wie State of Departmentz, Phase 5, Such a Surge, Jazzkantine, Cappucino und Aleksey. Rap Nation Records um Matthias Lanzer veröffentlichte 1993 einen der ersten Rapsampler namens That´s real Underground.

Danach ging alles noch viel schneller. Ich machte mir deutschlandweit schnell einen Namen und traf auf gleichaltrige Rapper wie die Absoluten Beginner und Main Concept (Klasse von 94).

Unsere Vorbilder waren mehr Gruppen wie Advanced Chemistry als die Fantastischen Vier. Aber wir begehrten auf und wollten unseren eigenen Platz in der Hip-Hop- und Rapszene.

1995 veröffentlichte ich über MZEE Records eines der ersten Debutalben eines deutschsprachigen Solorappers in Deutschland namens „Renevolution“. So tourte ich in Deutschland, Schweiz und Österreich zusammen mit der Klasse von 1995 und 1996 als Support zusammen mit Spax für Fettes Brot durch die kleinen und großen Clubs der Republik. Nach Problemen mit MZEE Records war ich 1997 vertraglich erst einmal auf Eis gelegt und konnte auch die großen Erwartungen, die in mein Talent gesetzt wurden, nicht erfüllen und war auf einmal so etwas wie der Lars Ricken des Rap. Es folgte der Umzug nach Köln.

1998 deutet sich ein erstes Comeback an, nachdem ich die Chance hatte, Blumentopf auf deren „Großes Kino-Tour“ zu begleiten. Im Zuge der Tour mit Blumentopf traf ich DJ Tomekk in Würzburg, was meinem Leben eine entscheidende Wendung gab.

Wir recordeten zusammen mit Flava Flav und Afrob „Rhymes Galore“ und drehten das Video im Sommer 1998 in NY. Der Rest ist Geschichte.

2000-2010
Von Mixery Raw Deluxe zurück zum Bordstein

Um 2000 rum bekam ich die Möglichkeit, die Hip-Hop-Sendung „Mixery Raw Deluxe“ auf Viva zu moderieren. Mittlerweile war ich einem breiteren Publikum bekannt und ging auf meine erste Headliner-Tour, deren Höhepunkt ein ausverkaufter Gig im Jolly Joker in Braunschweig war. Nach einer weiteren erfolgreichen Single mit DJ Tomekk, KRS 1 und Torch „Return of Hip Hop“ und der Veröffentlichung meines Folge-Albums „Ein Album namens Bernd“ sollte es für mich erstmal wieder bergab gehen. „Ein Album namens Bernd“ war sowohl kommerziell als auch für die Kritiker kein sehr erfolgreiches und gutes Album und entsprach auch nicht dem sehr ernsten Common Sense der damaligen Rapszene, obwohl es sich über 20.000 mal verkaufte. So stand ich schwer in der Kritik aufgrund meiner sehr selbsthumorigen Art. Sidekick bei Oliver Pocher zu sein und bei einem Tatort mitzuspielen, welcher die Hip-Hop-Szene sehr stereotypisch darstellte, prägten ein eher negatives Bild meiner Person in der Rapszene.

Da ich meine musikalische Tätigkeit immer noch als reinen Spaß betrachtete und keinerlei geschäftliche Ambitionen hegte, war es nicht weiter verwunderlich, dass ich aufgrund der massiven Kritik in eine Trotzreaktion verfiel, die 2002 in dem Album „Scheiß auf euren Hip Hop“ mündete. Zu diesem Zeitpunkt vollzog sich in der deutschen Rapszene ein Paradigmenwechsel hin zu einer härteren und brutaleren Gangart mit neuen erfolgreichen Protagonisten wie Kool Savas und Azad, die eine komplett neue Zielgruppe für Rap in Deutschland erschlossen. Im Zuge dieses Wechsels und als etabliertes Feindbild einer neuen Generation und der darauf folgenden Desillusionierung zog ich mich aus der Rapszene zurück. 2005 veröffentlichte ich einen 15-minütigen Song namens „Die Enthüllung“ mit Sido als Host, in dem ich einmalig Stellung zu all der Kritik bezog. Mittlerweile lebte ich in Berlin und genoss einfach mein Leben ohne berufliche Ambitionen, was unweigerlich zu finanziellen Schwierigkeiten führte. 2008 endete dieser Verdrängungsprozess und ich fing an, im Call Center zu jobben unter dem Namen „Stefan Eckert“.

2010-2020
Mit der Bahncard 100 zurück zur Musik

Nach fast eineinhalb Jahren im Call Center war der Verdrängungsprozess abgeschlossen und ich traf eine Entscheidung. Ich kündigte meine Wohnung und verkaufte all mein Hab und Gut und investierte in eine Bahncard 100, mit dem Ziel, Stand-up-Comedian zu werden. Ich übernachtete in Zügen und bei Freunden und Bekannten.

Diese Entscheidung war ein Befreiungsschlag für mein Leben, und ich konnte durch das Zugfahren den Ballast der ganzen Enttäuschungen und Fails hinter mir lassen und schöpfte auf dieser Strecke wieder neue Motivation und Kräfte. Ich fing wieder von vorn an.

Es stellte sich schnell heraus, dass das Ziel im Weg war und es mehr die Idee war, alles aufzugeben, statt Comedian zu werden. 2011 bekam ich ein Angebot vom Rowohlt Verlag ein Buch zu schreiben über meine Erfahrungen. „Alles auf eine Karte – Wir sehen uns im Zug“. 2012 ging ich erfolgreich auf eine fast 2-jährige Lesereise und immigrierte mich 2014 wieder erfolgreich in den Wohnungsmarkt.

Ironischerweise führte mich der Weg wieder zurück zu dem, was ich immer schon am meisten geliebt habe: das Rappen.

2015 veröffentlichte ich nach fast 10 Jahre mein Comeback Album „Renessance“ und

2016 hat sich endlich für mich auch auf privater Ebene ein Kreis geschlossen und zwar die Reise nach Marokko in das Land meines Vaters. Dort lernte ich endlich als mittlerweile Erwachsener meine marokkanischen Verwandten kennen. Sich selbst und die verwandschaftlichen Ähnlichkeiten in den Gesichtern der anderen zu sehen, war schon ein irres Gefühl. 2016 veröffentlichte ich das in Marokko aufgenommene Album mit dem Titel meines arabischen Familiennamens „Khazraje“ und bin im selben Jahr endlich selbst Vater geworden. Seit 2017 habe ich eine ausverkaufte Veranstaltungsreihe im Gloria in Köln „Der große Hip-Hop-Tanzabend“ und veröffentliche fast jedes Jahr ein neues Album. Auch dieses Jahr zu meinem 30-Jährigen Bühnenjubiläum. Dass alles soweit kam, hätte ich selbst nicht mehr für möglich gehalten und bin letztendlich froh und dankbar, dass ich die Möglichkeit hatte, aus meinem Scheitern herauszuwachsen und mein Frieden mit der Vergangenheit zu schließen. In diesem Sinne verabschiede ich mich mit dem Satz: „Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.“ Mein Leben ist ein Freestyle.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Stadtglanz Print-Ausgabe 16 / Oktober 2020.

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