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Lifestyle

8. März 2021

Die Wankelmütigkeit des Glücks

Wenn Home-Office und Geigenspieler zusammentreffen

Von Johanna Feckl

(Fotografie: Adobe Stock/Alenavlad, martialred)

Es ist schon erstaunlich, wie nahe Glück und Unglück beieinanderliegen. Das eine kann es nicht ohne Abgrenzung zum anderen geben, ein bisschen Yin-und-Yang-mäßig – und manchmal ist aber irgendwie alles das gleiche und trotzdem auch wieder nicht. Hä?

Was bedeutet Glück? Das ist eine Frage, über die schon die alten Griechen beim Philosophieren gestolpert sind. Aristoteles zum Beispiel sah das Glück des Menschen in dessen tugendhafter Vernunfttätigkeit – das tugendhaft verrichtete „ergon“ des Menschen, die Vernunfttätigkeit, führt ihn zur „eudaimonia“, zur Glückseligkeit. Klingt ganz schön komplex. Ist es auch. Es braucht aber gar keine Aristoteles-Expertise, um zu erkennen, dass die Sache mit dem Glück keine einfache ist. Dazu reichen auch Home-Office und ein Geigenspieler aus.

Der Corona-Home-Office-Bann dauert nun schon seit Mitte März an. Seitdem: Keine Autofahrt mehr zur Arbeit mit dem Lieblingskollegen, in dessen Auto selbst im Sommer solch warme Luft aus den Gebläsen strömt, dass die Augenlider an den Kontaktlinsen kleben bleiben. Kein charmanter Austausch von verbalen Boshaftigkeiten mehr mit dem anderen Kollegen, für deren Verständnis man schon ein Insider sein muss. Keine albernen Cartoons mehr, die ein dritter Kollege kommentarlos an die Pinnwand der Autorin heftet und es gar nicht anders geht als kräftig loszuprusten. Seit neun Monaten ist das alles futsch.

Stattdessen wird morgens zu Hause der Laptop aufgeklappt und los gearbeitet. Zwischendurch, als Ersatz für die lieb gewonnenen Begegnungen mit den Kolleginnen und Kollegen, wird mal der „Los“-Knopf oder der „Tür auf“-Knopf der Waschmaschine gedrückt. Und manchmal, wenn Handtücher in der Trommel liegen, dann wird zusätzlich der „Schleudern“-Knopf gedrückt. Glückseligkeit sieht hoffentlich anders aus.

Doch dann betrat er die Bühne: Der Geigenspieler in der Wohnung über der eigenen. Es begann an einem Montagnachmittag mit einem zarten Streichler des Bogens über vier Saiten. Die Ohren horchten auf, die eben noch tippenden Finger hielten inne. Weitere Töne drangen durch die Wände und formten ein Lied. Ein schönes Lied. Lebhaft und zugleich melancholisch. Perfekt inszeniert vom anonymen neuen Nachbarn, dem Geigenspieler. Nach monatelanger Abstinenz endlich wieder dieses berauschende Gefühl, Live-Musik zu hören! Und dann auch noch während der Arbeitszeit! Herrlich! Das musste er sein, ein Moment wahren Glückes.

Jeden Tag frönte der Geigenspieler seiner Berufung. Und jeden Tag brodelte dieses Glücksgefühl in der Brust der Zuhörerin in der Wohnung darunter. Aber es wurde weniger. Stetig. Bis am zehnten Tag alles Glück passé war.Von da an brodelte etwas anderes: Wut – über so viel Unglück, durch das fesselnde Home-Office jeden Tag dieses immer gleiche verdammte Gefiedele ertragen zu müssen. Ruhe! RU-HE! Die gibt es nun nur noch sonntags. Da ist nämlich Ruhetag. Das wusste schon der liebe Gott. Und es sind die Sonntage, die einen vor lauter Geigenspiel-Stille zu erdrücken drohen. Welch ein Glück, dass am nächsten Tag wieder Montag ist!

Johanna Feckl

Johanna Feckl, geboren 1989, hat Germanistik und Philosophie in München und Berlin studiert. Seit 2015 arbeitet sie als freie Journalistin unter anderem für die „Süddeutsche Zeitung“, die „Deutsche Presse-Agentur“ und andere. Meistens findet man sie in München oder in Braunschweig und sehr oft im Zug irgendwo dazwischen – manchmal sogar mit Fahrrad.

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