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Lifestyle

1. Juni 2019

Der Liebeschip

Programmiertes Beuteschema

Von Christian Hemschemeier

(Illustration: Joey Mertinke)

Eine Vielzahl meiner Klienten versucht aus dysfunktionalen Beziehungen herauszufinden.

Dabei scheinen sie blind immer wieder auf die gleichen (problematischen) Partner zu treffen. So findet vielleicht ein Mann mit einer alkoholkranken Mutter ständig Freundinnen mit Alkoholproblemen – und dies obwohl diese anfangs nichts davon zeigten. Der Grund ist das sogenannte Imago, das heißt das innere, unbewusste „Suchbild“ des Partners, welches früh in der Kindheit angelegt wird. Ich nenne dieses Suchbild lieber den „Liebeschip“.

Es ist eigentlich ganz einfach

Was wir als Kind oder Säugling vorgesetzt bekommen, speichern wir auf unserem Liebeschip als Liebe ab. Wenn wir nun bereits in unserer Kindheit unter schwierigen, schmerzhaften Bedingungen aufgewachsen sind, programmieren wir unseren Chip gleichermaßen mit Liebe und Schmerz. In späteren Liebes­beziehungen suchen wir eben diese schmerzhaften Bedingungen (z. B. in Form einer On-/Off-Beziehung) unbewusst wieder auf und setzen den empfundenen Schmerz sowie die Intensität fälschlicherweise mit Liebe und Leidenschaft gleich.

Dieses Programm läuft in tiefen Schichten unseres Gehirns ab, ist dem rationalen Denken kaum zugänglich und wird oft als „Beuteschema“ schulterzuckend abgetan. Leider führt dieses Schema jedoch zu immer gleichen, meist frustrierenden Beziehungserfahrungen. Wenn wir jemanden finden, mit dem sich „alles richtig anfühlt“, jemand der „der/die Eine ist“ usw. heißt es leider einfach nur, dass diese Person exakt auf unserem Liebeschip liegt, der nicht unbedingt die beste Programmierung hat.

Karl kommt in meine Praxis. Wie es erstaunlich oft vorkommt, waren ihm die Ähnlichkeiten seiner Partnerinnen bisher kaum richtig aufgefallen. Solange man seinen Liebeschip nicht wirklich verstanden hat, ist man wie blind für das Muster, dem man folgt. Freunden hingegen fällt es oft leicht, die Zusammenhänge von außen zu erkennen.

Ihm ist es immer wieder passiert, dass seine eigenen Bedürfnisse nicht erfüllt werden und er sich einsam in seinen Beziehungen gefühlt hat. Wir konnten dies drauf zurückführen, dass er schon in der Kindheit, aufgrund verschiedener Probleme seiner Eltern, gelernt hat, für andere da zu sein und seine eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Es ist immer wieder unglaublich zu sehen, wie zielsicher wir unser Beuteschema erfüllen – als hätten wir einen Sender auf unserem Kopf, der anderen verrät, wie wir ticken.

Robert war sich sicher, dass er keine weitere solche Beziehung haben wollte. Daher war die Mission: Umprogrammierung des Liebeschips. Er lernte in der Beratung, dass er nun auch „mit dem Kopf“ eine neue Partnerin suchen müsse und sich nicht nur auf das Gefühl von „Chemie“ verlassen darf. Er überlegte, wie er schon früh erkennen kann, ob er sich wieder jemanden sucht, der nicht wirklich für ihn da sein wird.

Nachdem er im Dating-Prozess ein paar Mal nein sagen musste, traf er schließlich auf eine für ihn attraktive, aber irgendwie andersartige Frau. Er bemerkte schnell, dass sich die ersten Wochen ganz anders – eben ungewohnt – anfühlten. Es fehlte das Drama, alles war viel ruhiger als sonst.

Obwohl sie eigentlich all das erfüllte was er sich wünschte (im Sinne von Verlässlichkeit, Offenheit, Zugänglichkeit), war er doch irritiert. Er fühlte nicht diese „Schock-Verliebtheit“, kein obsessives Gedankenkarussell oder Adrenalinschübe, wenn unerwartet eine Herzchen-SMS eintrifft. Trotzdem genoss er die langsam strömende Zweisamkeit, die sich entwickelte. Wir besprachen, dass all dies die „Symptome“ sind, wenn man außerhalb seines Musters datet. Im Verlauf der nächsten Monate vermisste er schon den „Kick“, den seine Drama-Kontakte ihm bereiteten. Aber er bemerkte leichzeitig, wie viel glücklicher, ausgeglichener und arbeitsfähiger er war. Nach und nach folgte auch sein Gefühl und er konnte zum ersten Mal erleben, wie sich eine sichere Beziehung anfühlt.

Christian Hemschemeier

(Jahrgang 1967) ist seit 2000 selbständig als Psychotherapeut, Paartherapeut und Coach. 2004 gründete er alstertal-­coaching für die Beratung in Unternehmen, 2009 das Institut für Integrative Paar­therapie zur Ausbildung von Paar­therapeuten. Seit letztem Jahr ist er zunehmend tätig als YouTuber eines Kanals zu Dating, Beziehung & Liebe und entwickelt Online-Kurse und Seminare in diesem Bereich. www.liebeschip.de

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