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Y-JOBS

8. November 2022

Wer sich nicht optimiert, verliert?

Wie uns die Leistungsgesellschaft alle zu Verlierern macht

Hier noch ein paar Überstunden, da noch eine Session Yoga, nachhaltiger leben, effizienter arbeiten, sich in Achtsamkeit üben und am besten gleichzeitig noch fünf Kilo abnehmen. Überall wo man heute hinschaut, wimmelt es an Ratgebern und Coachings zum Thema Selbstopti­mierung. Aber nicht nur das Angebot steigt, sondern auch die Nachfrage. Ein Trend?

Würden wir Menschen uns nicht schon seit jeher optimieren und weiterentwickeln, stünden wir heute nicht da, wo wir sind. Allein die Entwicklungen von Mobilität, Medizin und Technik untermauern diesen Fortschritt. Nach dem Ausdruck Survival of the Fittest, den Darwin 1869 in seiner Evolutionstheorie aufgriff, überleben im Kampf um das Dasein nur die am besten angepassten Individuen. Plakativ ausgedrückt: Wer nicht schnell und ausdauernd genug vor dem Säbelzahntiger davon rannte, wurde aufgefressen.

Heute sieht unsere Umwelt, an die wir uns anpassen müssen, etwas anders aus: Es gibt keine Säbelzahntiger mehr, die hinter uns her sind, und wenn es gut läuft für uns, müssen wir als Teil der westlichen Gesellschaft auch nicht um Nahrung oder Sicherheit kämpfen. Woran passen wir uns also an, um nicht aus dem Rahmen zu fallen? Waren es früher noch Institutionen wie die traditionelle Familie, der langjährige Arbeitsplatz oder die Religion, an deren Maßstäben sich die Menschen orientierten, rückt heute das Individuum selbst immer mehr in den Fokus. Die Entwicklung der Individualisierung brachte uns ins Zeitalter der Leistungsgesellschaft, in der die persönliche Selbst­verwirklichung als einzig wahres Lebensmodell gilt, um glücklich zu werden. Ein Widerspruch?

Nicht unbedingt. Denn das Leistungsdenken hat es längst geschafft, selbst in unser Innerstes vor­zudringen und die Ansprüche an uns selbst zu lenken. In einer Welt, in der uns vermittelt wird, man könne alles erreichen, was man will; man müsse sich nur genug anstrengen, ist man ein Verlierer, wenn es nicht klappt. Ist man unglücklich, ist man also auch noch selbst schuld daran. Dieses Leistungsdenken, das sich im Drang nach Selbstoptimierung ausdrücken kann, kann verheerende Folgen haben: „Wenn ich denke, ich muss mich optimieren, kann häufig der Gedanke Auslöser sein, dass ich nicht gut genug bin. Dies ist sicherlich einer der Haupttreiber für viele emotionale Probleme“, erläutert der Diplom-Psychologe Christian Hemschemeier. Auch eine Freundin, Romy*, berichtete kürzlich von ihren hohen Ansprüchen an sich selbst. Sie beendete erfolgreich eine Ausbildung, ein Bachelor- und Masterstudium, bekam einen gut bezahlten Job als Referentin für politische Kommunikation. Doch immer blieb da das Gefühl, es ist nicht genug: „Es ist eine Never-Ending-Story, es geht immer noch mehr. Durch diesen Optimierungswahn habe ich manchmal Angst, dass ich eine Tür zuschlage und dann ist es die falsche. Der Druck, immer besser sein zu müssen, macht mir das Innehalten und das Feiern von Erfolgen schier unmöglich.“

Heute bringt uns vielleicht nicht mehr ein Säbelzahntiger an unsere Grenzen, dafür aber unsere eigenen und die gesellschaftlichen Erwartungen. Denn das ist das Prinzip, das die Leistungsgesellschaft vorantreibt: Irgendjemanden wird es in diesem System immer geben, der in etwas besser oder erfolgreicher ist als man selbst; in irgendeinem Bereich kann man sich immer weiter entwickeln. Dabei ist Selbstoptimierung natürlich nicht per se schlecht: „Sein eigenes Leben als veränder- und verbesserbar anzusehen, ist sehr wichtig. Wenn ich aber meinen inneren Antreiber, der zu meinem Ego gehört, komplett ans Steuer lasse, werde ich Schwierigkeiten haben, einfach mal im Moment zu sein und das Leben zu genießen“, schlussfolgert Hemschemeier.

Vielleicht sollten wir alle also manchmal einen Gang zurückschalten und das wertschätzen und annehmen, was wir schon haben. Denn aus diesem Wettbewerb können wir ansonsten nur als Verlierer hervorgehen.

 

Dieser Artikel erschien zuerst als Titelstory zum Thema SELBSTOPTIMIERUNG in der Stadtglanz Print-Ausgabe 15 / April 2020.

Anna Charlotte Groos

Anna Charlotte Groos studierte Literaturwissenschaft, Soziologie und Philosophie. Neben ihrer Begeisterung für das Reisen, Wandern und Schreiben interessiert sie sich vor allem für Menschen und ihre Geschichten zwischen den Zeilen.

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