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Y-JOBS

1. April 2020

Heute schon Marathon gelaufen?

Vom Ich zum Über-Ich

 

Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. Sagte Mark Twain.

Und das nenne ich Selbstoptimierung in Vollendung.

Weil es ja doch einen Unterschied gibt zwischen Selbstverwirklichung und -optimierung. Für letzteres kann man sich bei Google zwanzig Apps herunterladen: für Fitness, Gesundheit, perfekte Ernährung, Meditation, Lebensstil, Umweltbewusstsein …

Kann man. Muss man aber nicht.

Selbstverwirklichung würde für meinen Geschmack schon reichen – also ein Leben zu führen, in dem man mit sich und der Welt einigermaßen im Einklang ist. Das klingt einfacher, als es ist. Ganz zu schweigen von der Hype der Selbstoptimierung. Vom Ich zum Über-Ich. So schön, fit und gesund, leistungsstark und erfolgreich zu sein, wie wir nur können.

Mein optimiertes, tolles Ich

würde also frühmorgens aufstehen, Gesundheitstee trinken, zum Joggen gehen, danach eiskalt duschen, einen grünen Smoothie schlürfen, meditieren, mit dem Fahrrad zur Arbeit, kreativ, effizient und kommunikativ sein, mittags ein veganer Snack, abends vielleicht noch ins Fitness-Studio und zum Ausklang ein Glas Bio-Wein mit Freunden im Feelgood-Restaurant.

Pfui Teufel. Dieses Leben würde mir gar nicht gefallen. Meine Version der Selbst­optimierung war mehr oder weniger der Versuch, meine Fähigkeiten mit minimalem Aufwand einigermaßen erfolgsorientiert einzusetzen. Und darüber hinaus vieles zu tun, was weder effizient noch gesund ist, aber eben Spaß macht.

Na gut, ein wenig mehr an Selbstdisziplin könnte schon sein. Doch habe ich mir längst abgewöhnt, mich an all jenen zu messen, die schöner, klüger, erfolgreicher, fitter sind als ich. Wenn deren Leben zur Leistungsshow wird, sind sie selber schuld. Dass sie glück­licher sind als der Rest der Welt, glaube ich nicht.

Im digitalen Zeitalter wird Perfektion aber auch gnadenlos vermarktet. Seht nicht so versessen auf Models, Schauspieler, Influencer – und was sonst noch an äußerlich makellosen Figuren durchs Internet geistert – mit oder ohne Photoshop. Schönheit ist anbetungswürdig, aber im wahren Leben höchst selten, und die GROSSE Mehrheit der Menschen hat eben KEINEN perfekten Körper.

Weshalb ich die Body-Positive-Bewegung anfangs gut fand, bis mir die schwergewichtigen Selfies im Netz zu viel wurden. Jeder Körper ist schön, ist das Mantra der Bewegung. Aber nicht unbedingt fotogen, finde ich. Und ist das Thema wirklich so wichtig? Es existiert mehr zwischen Himmel und Erde, für das es sich zu kämpfen lohnt. Und es gibt nun einmal kein Menschenrecht auf Schönheit, finden wir uns damit ab.

Niemand sollte daran gehindert werden, den Egotrip der Selbstoptimierung zu beschreiten. Die Welt braucht bessere Menschen, aber es ist keine Frage der Ästhetik. Intelligenz, Toleranz, Mitgefühl, Güte, Leidenschaft, … Naja, diese Werte sind halt via Instagram oder Facebook schwer zu vermarkten.

Karl Lagerfeld hat einmal gesagt: „Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“ Der Mann war ein Genie der Selbstoptimierung. Aber seine Aussage ist bestenfalls witzig. Oder auch nur blöd.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in der Stadtglanz Print-Ausgabe 15 / April 2020.

Christine Grän

wurde in Graz geboren und lebte in Berlin, Bonn, Botswana und Hongkong, bevor sie nach München zog. Die gelernte Journalistin wurde durch ihre Anna-Marx-Krimis bekannt, die auch verfilmt wurden. Sie veröffentlichte unter anderem die Romane „Die Hochstaplerin“, „Hurenkind“ und „Heldensterben“. Zuletzt erschienen „Amerikaner schießen nicht auf Golfer“, „Sternstraße 24“ und „Glück am Wörthersee“ im ars vivendi Verlag.

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