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2. Juli 2021

Das Braunschweig-Wolfsburg Sofa

Schöne neue Welt

Im Rahmen unserer Serie „Das Braunschweig-Wolfsburg-Sofa“ folgten unserer Einladung Stephan Lechelt (Geschäftsführer Altmeppen GmbH), der als Immobiliensachverständiger seit 2016 den Büromarktbericht für Braunschweig herausgibt (erhältlich unter www.bueromarkt-braunschweig.de) und Jan Laubach, Geschäftsführender Gesellschafter der iwb Ingenieure-Gruppe, die mit ihren interdisziplinären Team bundesweit Planungs-, Beratungs- und Projektmanagementleistungen für die Bau-und Immobilienwirtschaft erbringen. Beide gehören dem fachlichen Beirat des regionalen Immobilien- und Bauwirtschaftsratgebers „Service-Seiten Immobilien“ an. Sie trafen sich zum Gespräch mit Frau Prof. Dr. Tatjana Schneider vom Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt der Technischen Universität Braunschweig zu einem visionären Austausch der künftigen Stadtentwicklung.

Regional- und Stadtentwicklung – Ohne Vision geht es nicht

Darüber waren sich Frau Prof. Dr. Tatjana Schneider vom Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt der Technischen Universität Braunschweig (Anmerkung der Red.: Oberbürgermeister-Kandidatin der Grünen für Braunschweig 2021) und die Herren aus der Immobilienwirtschaft, Jan Laubach (iwb) und Stephan Lechelt (Altmeppen), bei unserem Gespräch zur Zukunft der Städte einig: Die Herausforderungen der zukünftigen Stadtentwicklung lassen sich nur meistern, wenn gemeinsam Visionen und Ziele erarbeitet werden. Nur das Aufbrechen bestehender Strukturen und der Blick über den heimischen Tellerrand verbunden mit agilen Projektstrukturen schaffen das „Mehr" an Qualität – für die Zukunft unser Städte.

Grän: Diese Stadtglanz-Ausgabe steht unter dem Motto „Agilität“. Gemäß Definition ist Agilität ein Merkmal einer Organisation, das durch Flexibilität, Proaktivität sowie antizipatives und initiatives Handeln geprägt ist, um notwendige Veränderungen einzuführen. Eigentlich doch ganz passend in Hinblick darauf, was uns künftig in der Stadtentwicklung erwartet – oder?

Schneider: Ja! Vorausschauende Stadtstadtentwicklung ist notwendig. Was es wirklich braucht, ist ein System, was offen genug ist, um Veränderungen aufnehmen zu können. Und flexibel und schnell handeln zu können. Das Vorrausschauende ist zu antizipieren, dass sich Dinge verändern, ist zu akzeptieren. Gar nicht unbedingt zu wissen, was passiert und wie es passiert. Dazu müssen Reserven in einer Stadt mit eingebaut werden. Also nicht die Bibliothek bauen, in die nur die Bücher passen, die man heute hat. Es braucht Raum, damit sich Dinge erweitern können, der aber auch umorganisiert werden kann.

Grän: Wir gehen heute davon aus, dass sich in den Städten durch die veränderten Handels- und Bürowelten, beschleunigt durch die Pandemie, ein tiefgreifender Wandel vollziehen wird. Dies bringt viel Unsicherheit und Befürchtungen mit sich. Ist es aber nicht ein vollkommen normaler Prozess, den wir in der Vergangenheit schon mehrfach erlebt haben?

Schneider: Wandel haben wir schon immer erlebt. Das ist auch nicht neu. Denn wir wandeln uns permanent.

Laubach: Man kann den Menschen aber die Angst nehmen, die ihre Stadt so sehen, wie sie heute ist und diesen Zustand möglichst bewahren wollen. Mit Blick auf andere Zeitpunkte kann aber darauf verwiesen werden, dass sich die Stadt oder auch ganze Regionen auch in der Vergangenheit bereits komplett gewandelt haben.

Lechelt: Ich glaube aber schon, dass es einen Unterschied gibt zwischen einem permanenten Wandel und dem, was sich derzeit für viele Menschen als großer Schritt anfühlt. Im Rückblick gab es z. B. nach dem Weltkrieg 1945 die Situation, dass aufgrund der großflächig zerstörten Städte etwas neu gemacht werden musste. Das ist zwar nicht direkt vergleichbar, hatte aber auch eine große Dimension und tiefgreifende Veränderungen, die bis heute nachwirken.

Schneider: Manchmal ist es aber auch ein bisschen die Rhetorik. Plötzlich wird im Zuge von Corona gesagt, der Einzelhandel stirbt. Stimmt nicht, der Handel stirbt schon viel länger. Das ist ein schleichender Prozess, der durch Corona nur sichtbarer wurde und bereits dramatisch weit fortgeschritten ist. Die Entwicklung ist aber auch nicht in allen Städten gleich. Die Veränderungen in den Innenstädten gehen daher nicht unbedingt plötzlich, sondern eher sukzessive vonstatten. Es wird teilweise nicht genügend darüber geredet, sodass die Veränderung dann als plötzlich und sehr drastisch wahrgenommen wird.

Laubach: Genau: dass der örtliche Handel durch das Internet ein Problem bekommt, hat Corona vielleicht beschleunigt. Aber die Anzeichen waren schon vorher da. Mancher hat die Zeichen der Zeit einfach nicht erkannt.

Lechelt: Da müssen wir aber auch ehrlich zu uns selber sein: die Situation in den Innenstädten ist das Ergebnis unseren Handels. Wäre der Einzelhandel vor Ort dem/der einzelnen wichtig, würde er/sie dort auch einkaufen. Und wenn die Menschen eine andere Innenstadt haben wollen, sollten sie sie bekommen.

„Die Situation in den Innenstädten ist das Ergebnis unseres Handels.“

Grän: Ist der Eindruck richtig, dass Stadtentwicklung heute auf einer viel breiteren Basis von Meinungen und Interessen erfolgt?

Schneider: Corona hat uns vor allem gezeigt, dass es hierbei ganz viel Nachholbedarf gibt. Im Sinne von: wo wird die Zukunft der Stadt tatsächlich verhandelt? Mit wem wird darüber geredet? Wer wird damit einbezogen, es zu besprechen? Was uns in den Städten fehlt, ist das breite Aufstellen von Ideen. Ich bin eine große Verfechterin der offenen Systeme, mit denen viele unterschiedliche Ideen eingeholt werden können. Also geschaut wird, was es tatsächlich alles sein kann und was diese Gebäude auch tun können. Ansonsten bleibt viel auf der Strecke. Architektenwettbewerbe sind dabei ein guter Weg. Wichtig ist in diesen Systemen aber immer Transparenz: Warum werden bestimmte Dinge entschieden oder Materialen verbaut?

Laubach: Der Architektenwettbewerb ist für mich eigentlich der zweite Schritt. Zunächst muss erstmal klar sein, welche Nutzung realisiert werden soll. Dazu muss man auch mal die Bebauungspläne von 1965 entstauben und bei Nutzungsmöglichkeiten quer und stadtweit denken. Diese Klärung muss aber in anderen Gremien, Prozessen etc. erfolgen als es bisher der Fall ist, um Akzeptanz zu schaffen.

„Es braucht die fremde Sicht und die Impulse von außen, um vielleicht auch Schätze zu finden, die wir selber schon nicht mehr sehen.“

Schneider: Dazu braucht es eine klare Struktur und Richtung, die aber auch regelmäßig revidiert und angepasst werden muss. Eine strategische Zielsetzung ist wichtig, braucht aber auch Offenheit und Freiräume. Wo will ich 2030 sein, wo 2050? Und wie komme ich dorthin? Um dies zu klären, ist es gut, auch mit einem externen Blick auf eine vertraute Situation zu schauen. Es braucht die fremde Sicht und die Impulse von außen, um vielleicht auch Schätze zu finden, die wir selber schon nicht mehr sehen. Menschen, die in Transformationsprozessen auch schon weiter sind als wir. Kopenhagen ist in diesem Zusammenhang ein vielzitiertes Beispiel, weil aber dort schon 2009 klar definiert wurde, wohin es gehen soll.

Lechelt: Solche Prozesse kosten natürlich Geld, aber das muss sich die Gesellschaft leisten. Wenn wir in die Region schauen, haben wir mit Wolfsburg ein gutes Beispiel für einen solchen Ansatz. Die dortigen Projektpartner haben sich das Urban Land Institut geholt, um genau diesen externen Blick auf die Stadt werfen zu lassen. Darauf aufbauend wird u. a. nun mit (der Signa) einem externen Partner ein größerer Bereich in der nördlichen Innenstadt entwickelt. Mein Hauptansatz ist daher, dass es bei der Stadtentwicklung eine Vision für eine größere Fläche als nur ein Grundstück braucht.

„Die Gesellschaft muss sich den Blick in die Zukunft leisten!“

Schneider: Schlussendlich müssen wir über die Zukunft reden und Bilder schaffen, die zeigen wie es aussieht, wenn man sich traut. Dazu müssen sich die Menschen einbringen. Aber auch vielmehr auf die Forschung hören.

Grän: Wie stellt sich das Thema der wandelnden Städte in Deutschland im internationalen Vergleich dar? Gibt es signifikante Unterschiede oder haben wir es eher analog der Corona-Pandemie mit einer globalen Herausforderung zu tun?

Schneider: Es ist ein internationales Thema, wie das angesprochene Beispiel Kopenhagen zeigt. Aber auch viele Städte in China und Indien haben schon definiert, wo sie 2025, 2030 sein wollen und wie sie gedenken, dort hinzukommen. Aber auch kleinere Kommunen in Deutschland, z. B. Offenbach, haben eine Version und daraus abgeleitet klare Maßnahmenkataloge erarbeitet, wie sie die Stadt sukzessive und gesamtheitlich entwickeln wollen.

Lechelt: Eigentlich haben wir mit „Denk Deine Stadt“ in Braunschweig genau dies bereits getan, aber natürlich ohne größeren externen Input. Der fehlt uns bei dieser Diskussion also.

Schneider: Wichtig ist, dass wir nicht nur die Städte toll machen und den Rest vergessen, sondern die Region als Ganzes mit seinen Schnittstellen erkennen.

Laubach: Dazu passt ja auch die Entwicklung, die wir z. B. in Amerika sehen, wo die Menschen im Zuge der Corona-Pandemie aus den Städten raus auf das Land ziehen. Es wird schon der Begriff der Landflucht geprägt. Daher ergibt sich ja die Frage, ob die Städte tatsächlich weiter wachsen werden oder ihre maximale Ausprägung erreicht haben, weil die Infrastruktur nicht mehr hinterherkommt. Vielleicht ist es ja der bessere Weg, die Mittelzentren wieder zu stärken.

Schneider: Wir haben die Grenzen von einem baulichen Wachstum an vielen Orten erreicht. Weitere Verdichtungen sind aber möglich und könnten notwendig werden. Mittelstädte stärken muss sein, aber vielleicht muss man an einigen Orten auch loslassen.

Lechelt: Wir haben das Nachverdichtungspotential. Wenn wir z. B. mal nach Asien schauen, sehen wir, wieviel Potenzial wir eigentlich haben. Aber warum trauen wir uns nicht?

Schneider: Das ist eine gute Frage! In die Höhe zu gehen, ist an einigen Stellen die richtige Lösung. Denn es schafft Freiräume, auch für öffentlichen Raum.

Grän: Bietet der künftige anzunehmende Überbedarf von Gewerbeflächen Chancen für das Neudenken von Städten? Eine kleine innerstädtische Event-Arena, wo einst vielleicht ein Kaufhaus stand? Denken Sie bei künftigen Entwicklungen die Stadt neu? Wohnen und Freizeit statt Handel und Arbeiten? Wie sieht die Vision für die mittelgroße deutsche Stadt aus?

Schneider: Es gibt nicht die eine Vision. Aber wesentliche Fragen sind doch, wie wollen wir in Zukunft zusammenleben? Wie soll soziales Leben gestaltet sein? Wie können Beruf und Freizeit zusammen sein? Die Vision wird etwas von Kompaktheit und Atmen haben, offen sein. Nicht stehenbleiben, sondern Weiterentwicklung. Dazu kann mit Modellprojekten gearbeitet werden. Es muss getestet, experimentiert, ausprobiert werden.

Laubach: Also eine Stadt, die agil ist! Mein Eindruck ist, dass wir hier oftmals zu reaktiv sind, siehe aktuell die Büromarktsituation. Mir persönlich fehlt für Braunschweig ein Motto, was zeigt, wohin diese Stadt will. Es fehlt die Vision, der gesamtheitliche Masterplan.

Schneider: Um diese Vision zu entwickeln, müssen wir Wissen über das Verhalten der Menschen erlangen. Wir wollen nicht überall die gleichen Städte haben. Daher müssen wir das lokale Wissen nutzen, um unterschiedliche Qualitäten zu schaffen und eine regionale Ausprägung von verschiedenen Schwerpunkten zu stärken.

Laubach: Wir machen also Wolfsburg zum Disneyland von Braunschweig – Kunst, Kultur, Event! Salzgitter hat tolle Freizeitmöglichkeiten und Sportanlagen, sodass dort ein entsprechender regionaler Schwerpunkt wäre. Und Braunschweig als Einkaufsstadt mit Flair. Vermeidung von Konkurrenzangeboten in den Kommunen. Stattdessen Entwicklung als Ganzes.

Schneider: Dazu müssen wir uns aber auch Gedanken machen, wie unsere Stadt in 30, 40 Jahren aussehen soll. Auch unsere Kinder müssen wir fragen, was sie für eine Stadt möchten.

Grän: Aber wird diese Vision nicht auch maßgeblich von älteren Menschen geprägt, die Veränderungen eher avers gegenüber stehen? Besteht nicht die Gefahr, eher zu bewahren als zu gestalten?

Schneider: Bei der Diskussion müssen deshalb natürlich viel stärker auch jüngere Menschen mit am Tisch sitzen. Aber sie müssen dann auch mit in die Verantwortung gezogen werden. In einigen Städten gibt es das schon, aber eher zu wenig.

Laubach: Das ist aber ein Manko, da die Jüngeren sich eher zu wenig in diesen Prozessen beteiligen. Das führt zu einem Stillstand, den wir derzeit wahrnehmen. Gleichzeitig müssen Ziele nicht nur benannt werden, sondern auch der Weg zur Umsetzung aufgezeigt werden.

Schneider: Das müssen wir auch aktiv einfordern.

Grän: Die von Ihnen initiierte Studentenstudie zur Umnutzung/Neugestaltung des ehemaligen Kaufhof-Gebäudes in Braunschweig hat zu viel beachteten Entwürfen geführt. Was waren die prägenden Leitideen und visionären Ansätze? Sind diese auch auf andere Immobilien übertragbar?

Schneider: Mein Kollege Norman Hack und ich haben die Prämisse gewählt, dass das Gebäude stehenbleiben muss, aber verändert werden kann und muss. Auf der funktionalen Ebene stecken viele Möglichkeiten in dieser Immobilie. Beispielsweise die Pilzfarmen und die Nachtkletterhalle in den dunklen Teilen und der Durchlässigkeit des Erdgeschosses zur Anbindung an das Magniviertel. Vergleichbare Entwicklungen gibt es schon in Oldenburg und Gelsenkirchen. Aber es ging auch um das Denken von anderen Finanzierungsmodellen und Trägerschaften, die wir uns in anderen Städten und Ländern angeschaut haben. Ein Ansatz war, wir gönnen uns ein öffentliches Haus in renommierten Lage.

Laubach: Aber das ist ja nur ein Objekt in der Braunschweiger Innenstadt. Wir haben mit u. a. dem Welfenhof, möglicherweise dem Karstadt am Gewandhaus und der noch in der Entwicklung befindlichen Burgpassage weitere Herausforderungen der innerstädtischen Entwicklung, für die eine gemeinsame Vision entwickelt werden muss. Eine Einzelfallbetrachtung hilft uns da nicht unbedingt weiter. Wir müssen dabei größer denken, um mittel- und langfristig Stabilität in die Innenstädte zu bekommen, nicht nur in unser Region.

Lechelt: Wir kommen immer wieder auf das gleiche Thema: Du brauchst ein Ziel, eine Vision. Unser Ansatz Arbeitsplätze in die Innenstadt zu bringen, basiert ja u. a. auf den Erfahrungen aus New York. Dort haben während Corona gut 500.000 Menschen die Stadt verlassen und nicht mehr vor Ort gearbeitet. Mit fatalen Folgen für Handel und Gastronomie. Wenn die Menschen in der Stadt arbeiten, brauchen sie keinen Anreiz, in die Stadt zu kommen. Sie bringen das Leben automatisch in die Stadt!

Schneider: Uns fehlt es auch an Versammlungsflächen in der Innenstadt. Und wenn wir die Frequenz erhöhen, brauchen wir natürlich auch ein Mobilitätskonzept.

Grän: Was fehlt unseren Städten aus Ihrer Sicht, um nicht nur die normalen Daseinsfunktionen zu erfüllen? Sie selber sprachen mal davon, dass die Stadt nicht nur die Ordnung von Alltagsabläufen sein soll, sondern ein „Mehr“ bieten soll.

Schneider: Die Innenstadt ist immer noch sehr monofunktional als Dienstleistung für andere Dinge, kein wirklicher Aufenthaltsort. Das könnte sie aber sein. Warum gibt es keine Orte, wo man/frau abhängen kann? Das „Mehr“ ergibt sich aus Wohnen, Arbeiten, Treffen, öffentlichen Funktionen, einem Ort, dem man sich annehmen kann, der aktiv mitgestaltet werden kann. Nicht nur passives Konsumieren, sondern vielmehr eine produktive Interaktion.

Laubach: Wo man nicht nur funktioniert, sondern auch verweilt. Also nicht nur arbeiten, einkaufen und wieder weg. Funktioniert das in Frankreich vielleicht besser? Mir fallen dazu die Boulespieler in den Alleen ein.

Schneider: Ja, genau. Die Boulespieler schaffen Qualitäten für andere, die einfach zuschauen und verweilen.

Lechelt: Also auch hier wieder der Blick über den Tellerrand, was sicherlich dazu beitragen kann, um auch morgen noch in einer schönen neuen Welt zu leben.

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