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5. Mai 2023

Narr zwischen den Stühlen

Eulenspiegels Wege und Möglichkeiten

Ein Hofnarr a. D. hockt vergnügt zwischen zwei alten Stühlen. Die Sitzflächen fehlen. Gewesener höfischer Glanz, es war einmal. Dennoch sitzt der Schelm bequem und schmaucht sein Pfeifchen inmitten des wackeligen, brüchigen, zerschlissenen Mobiliars. „Tertium non datur” (Entweder – oder; ein Drittes gibt es nicht) ist der Grundsatz der Logik, aber der Narr hat seine eigene, alternative Logik. Seine Einladung an uns: Macht euch auch einmal auf die Suche nach dem eigentlich ausgeschlossenen Dritten! Versucht es mit einem der Stühle! A. Paul Webers Lithografie von 1951 zeigt den Narren (wie den Künstler selbst) zwischen den Systemen und Ideologien im Nachkriegsdeutschland. Die Lage ist schwierig, dazwischen eben.

Als Hofnarr, was selten genug vorkam, war Eulenspiegel für seine Auftraggeber immer okay. Hier funktionierte er, anders als sonst, einmal wie gewünscht, weil Chaotisieren, Verdrehen, Veräppeln zum Geschäft gehörte. In Hermann Botes Eulenspiegelbuch (1515) wird er in dieser Rolle dreimal in Aktion gezeigt: Dem König von Dänemark lässt er das Pferd mit goldenen Hufeisen beschlagen, weil dieser ihm als Belohnung für einen überraschenden Streich den besten Hufschlag versprochen hat. Beim Fürsten Casimir, König von Polen, gewinnt er einen Wettkampf mit dessen Hofnarren, weil dieser (Eulenspiegels) Kot am Ende nicht essen will. Man amüsiert sich köstlich, wie auch anlässlich eines Bewerbungsgesprächs beim Bischof von Trier, dem Eulenspiegel den Brillenmacher vorgaukelt. Das Handwerk gehe aber schlecht, seit Kaiser, Papst und Fürsten keine Gesetzestexte mehr lesen würden, sodass niemand Unrecht geschehe. Daraufhin kommt er beim amüsierten Bischof in „Wappen und Kleid“. In der Rolle des Hofnarren ist Eulenspiegel trotz oder gerade wegen seiner seltsamen Handlungen und Worte erfolgreich. Im Gegensatz zu den anderen Berufen, Gewerken und Milieus, in die er sich einmischt, sind Überraschungseffekte bei den herrschaftlichen Auftraggebern sehr erwünscht, auch wenn sie viel Geld kosten, unappetitlich sind, den moralischen Zeigefinger erheben.

Eulenspiegel gab es, wenn überhaupt, mindestens zweimal – im Braunschweiger Land und in Mölln. Heute könnte man ihn, mit einigen Ausreißversuchen ins Mittel- und Ostdeutsche, als Niedersachsen ansehen. Geboren wurde der eine 1307 in Kneitlingen, bei Schöppenstedt, ein verarmter Kleinadeliger vielleicht, der durch Wegelagerei und Straßenraub in Braunschweig aktenkundig wurde. Der Andere, schon eher zusammengesetzt, eine historische Kristallisationsfigur (Bernd Ulrich Hucker), starb 1350 in Mölln an der Pest. Bereits mit der dreifachen Taufe ging einiges schief. Die mummenschwere Amme ließ das Kind nämlich auf dem Nachhauseweg von einem Steg in die Lache fallen, sodass das es dann noch einmal abgewaschen werden musste. In seinem Möllner Grab steht Eulenspiegel aufrecht, weil bei der Bestattung das Trageseil riss. Seine Streiche auf dem Totenbett – es war Pestzeit – vollzog er lustvoll unter Missachtung jeglicher Abstandsregeln. In all seinen Rollen verkörpert Eulenspiegel die Aneignung einer im Wandel befindlichen Welt. Gleich einer Novellengestalt der Renaissance durchdringt er den gesellschaftlichen Raum als Wanderer, Geschäftsreisender, Gesandter, Handwerksgeselle, Söldner, Landstreicher, Gaukler oder Pilger. Seine 96 Historien, einige wenige kamen später noch hinzu, erzählen von Menschen, Orten und Wegen im späten Mittelalter. Sie spielen in Stadt und Land zwischen arm und reich. Braunschweig und das Braunschweiger Land sind dabei bedeutende Standorte, exponierte Schauplätze der Taten und Missetaten des wandernden Schalks. Wir können sie aufsuchen. Sie stehen fest, anders als die Zeiten, die ihn sehr verschieden vergegenwärtigten. Hermann Bote, der Braunschweiger Gerichtsschreiber, hat Eulenspiegels Geschichten zu Beginn des 16. Jahrhunderts als Erster zusammengefasst, hat verschriftlicht und systematisiert, was zuvor nur im Munde des Volkes lebendig war. Es ist Reformations-, Umbruchs-, Krisenzeit und der Narr eine Figur des Überganges, ein Aus- und Einsteiger, ein Unternehmer auch, der überlebt und sich durchbringt, indem er den Rest der Welt foppt. Oft trifft es die Pfaffen. Martin Luther, der seine 95 Thesen nahezu zeitgleich veröffentlichte, hasste Eulenspiegel wegen dessen Disziplinlosigkeiten und Verhöhnung jeglicher nicht nur kirchlichen Ordnung. Eulenspiegels Streiche schaffen Exklusion und Konfusion – so unter den Schneidern, deren Auftrag, „die Ärmel an den Rock zu werfen“, er buchstäblich nimmt; unter den Bäckern, denen er tatsächlich (und am Ende überaus gewinnbringend für ihn!) Eulen und Meerkatzen bäckt. Der Braunschweiger Eulenspiegelbrunnen von 1906 erzählt diese Historie auf wunderbare Weise mit einer Narrengestalt, die griechisch frei und gar nicht preußisch oder gar deutsch-nationalistisch wirkt. Hier zwar nicht zwischen kaputten Stühlen, aber mit nur einem Pantoffel nach erfolgreich verrichtetem Geschäft. Die Eulen und Mehrkatzen gucken inzwischen etwas gelangweilt, so nach dem Motto: „Mach doch mal was Neues.“
    

Für spätere Rezipienten konnten Eulenspiegels Geschichten Trost und Hoffnung und sogar Aufforderung zum politischen Ungehorsam bedeuten. So wie er seine Widersacher bloß und dumm stellt, wie er provoziert und zündelt, muss man sich fast vor ihm fürchten. Vieles davon wäre heute zivil-, wenn nicht strafrechtlich relevant. Eulenspiegel ist eigentlich ein „Scheißkerl“ und ein Kleinkrimineller, erst viel später, bei Erich Kästner zum Beispiel, wird er zum lustigen Kinderfreund, der aufklärt und belehrt. Indes können und sollen sich gerade die Schwachen an ihm aufrichten, an jener frechen Ungezwungenheit und Ungeniertheit gegenüber jeglicher Autorität. Wo Till selbst „überrascht, irritiert, widerspricht“, wie das Motto des Schöppenstedter Museum lautet, wo er foppt und mobbt, rächt er sich auch für eigene frühe oder späte Verletzungen, so jene, wonach er durch mütterliche Intrige vom Seil in die Saale stürzte und vom Volk ausgelacht wurde. Er übte (un)verdrossen weiter, brachte es in seiner Kunst so weit, mit hundert linken Schuhen der Leute, aufgefädelt an einer Schnur, aufs Seil zu steigen. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Rache ist Blutwurst. Dass Eulenspiegels Streiche vor allem Reaktionen auf Gewalt- und Verlusterfahrungen, auf Hunger und Durst in der Kindheit sind, hat zuletzt Daniel Kehlmann behauptet. Seiltanzen war im Mittelalter übrigens ein lebensgefährlicher Leistungssport, also nichts für Faule und Arbeitsscheue  

Dabei ist Eulenspiegel zu guter Letzt keine Figur des Werdens oder des Wandels. Wir wissen nicht, wie er der wurde, der er war. Wir wissen nur, wie er in seinen Streichen immer derselbe blieb – urjung, uralt, urgesund, unermüdlich, gefährlich. Ein Aktionskünstler zwischen den Stühlen.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Stadtglanz Print-Ausgabe 27 / Sommer 2023.

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