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Y-JOBS

6. November 2020

Wie sieht der Weg in eine nachhaltige Gesellschaft aus?

Das Braunschweig-Wolfsburg-Sofa im Gespräch

v.l.n.r.: Jens Richwien, Florian Bernschneider, Ralf Utermöhlen, Matthias Fricke. Fotografie: Marc Stantien

Der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Florian Bernschneider und Stadtglanz Redakteur Jens Richwien sind Gastgeber des aktuellen Braunschweig-Wolfsburg-Sofas. In dieser Ausgabe sprechen sie mit zwei echten Nachhaltigkeitsexperten der Region: Ralf Utermöhlen, Umweltgutachter und Geschäftsführer der AGIMUS GmbH und Matthias Fricke, Geschäftsführer der ALBA Braunschweig GmbH.

Ralf, Du beschäftigst Dich seit fast 30 Jahren beruflich mit Umweltschutz und Nachhaltigkeit – was hat sich in der Zeit verändert?

Ralf Utermöhlen: Sehr viel und doch zu wenig. Umweltschutz war vor 30 Jahren ein Randthema; irgendwie wichtig, aber am Ende doch eher nice to have. Anfang der Neunzigerjahre haben sich Bürger wie Unternehmen mit medienbezogenen Einzelthemen befasst: Abfalltrennung, Reduzierung von Gefahrstoffen, Einhaltung einzelner Grenzwerte. Das war nur teilweise erfolgreich, zum Beispiel bei der Verbesserung der Qualität von Gewässern, aber der Ressourcen- und Naturverbrauch sind weiter angestiegen. Heute geht es um ganzheitliche Strategien und den nachhaltigen Umbau von Geschäftsmodellen. Bürger und Unternehmen haben also spät, aber immerhin erkannt, dass dieses Thema existenziell ist – was ich übrigens schon damals gepredigt habe. Doch jetzt ist die Zeitachse das Problem. Das globale Restbudget an Treibhausgasemissionen zur Einhaltung der Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens ist in ca. 15 Jahren aufgebraucht – wären wir von 30 Jahren, als eigentlich schon alle Fakten auf dem Tisch lagen, in die Hufe gekommen, wäre es jetzt nicht so eng.

Beim Recycling sieht die Entwicklung auf den ersten Blick besser aus. Seit Mitte der 1980er Jahre hat sich die Menge an Restmüll je Einwohner in Deutschland fast halbiert. Klingt nach einem gewaltigen Fortschritt, aber sind wir deswegen tatsächlich Recycling-Weltmeister?

Matthias Fricke: Deutschland war lange Zeit die treibende Kraft in Sachen Abfalltrennung und Recycling. Verwertungstechnologien „Made in Germany“ galten weltweit als vorbildlich. Mittlerweile haben uns viele andere Länder überholt. Glücklicherweise ist die Politik inzwischen aufgewacht und hat mit dem Verpackungsgesetz einen wichtigen Impuls für mehr hochwertiges Recycling gesetzt.

Nutzen wir doch die Chance, um zwei Klassiker zu besprechen, die in keiner Stammtischdebatte zum Thema fehlen. Erstens: Werden Abfälle aus unterschiedlichen Tonnen am Ende doch zusammen entsorgt?

Matthias Fricke: Nein. Die Abfalltrennung ist die Grundvoraussetzung für ein hochwertiges Recycling. Deshalb bleibt getrennter Abfall in jedem Fall getrennt. Landen etwa Pappe und Papier als Fehlwurf in der Gelben Tonne, werden sie zwar in der Sortieranlage aussortiert, sind aber verunreinigt. Papierfabriken haben daran kein Interesse mehr. Außerdem führt jede Form der Verschmutzung dazu, dass die Aggregate in der Sortieranlage die einzelnen Stoffe nicht mehr so leicht erkennen können. Dadurch sind sie schwerer zu recyceln. Wir sind daher auf die Mitarbeit der Menschen angewiesen, die die Abfälle zu Hause vorsortieren. 

Und stimmt es denn, dass Plastikmüll im großen Stil in andere Länder verschifft wird?

Matthias Fricke: Auch hierzu ein ganz klares Nein. Anders als oft dargestellt, werden Verpackungskunststoffe aus der Gelben Tonne und dem Gelben Sack zu mehr als 98 Prozent in Deutschland und Europa verarbeitet. Weniger als ein Prozent wurden in den Jahren 2017 und 2018 nach Asien exportiert. Ganz wichtig ist es, hier zwischen gebrauchten Verpackungen aus den Sammlungen der dualen Systeme und gewerblichen Kunststoffabfällen zu unterscheiden. Das wird oft miteinander vermischt.

Es gibt auch kaum eine Debatte zu Umwelt und Nachhaltigkeit, in der der Plastiküberzug der Gurke und der CO2-Austoß unserer Autos fehlen darf. Aber ist das wirklich der richtige Fokus oder stecken anderswo nicht viel größere Hebel?

Ralf Utermöhlen: Von den leider fast unzähligen einzelnen Umweltthemen sind Klimawandel, Verlust der biologischen Vielfalt und die Endlichkeit wichtiger Rohstoffe, die wir für den Erhalt der Lebensqualität künftiger Generationen benötigen, die wichtigsten Themen.

Entsprechend liegen die Antworten auf der Hand: Wir müssen die Energiewende bis spätestens 2035 geschafft haben – mindestens europaweit. Wir müssen als Gesellschaft den Gedanken der Kreislaufwirtschaft nicht nur in Gesetze schreiben, sondern ernsthaft leben. Der Flächenverbrauch und die Zerstörung von Naturräumen - sei es durch Abholzung und Brandrodungen oder den Eintrag von Schadstoffen und Müll in Umweltkompartimente wie die Ozeane müssen durch politische Maßnahmen strikt unterbunden werden. National ist da ein verlässlicher Staat mit klugen, mutigen Leitplankensetzungen gefragt. International geht das nur durch Anreizbildung: Für Länder wie Brasilien oder afrikanische Staaten muss es ökonomisch lohnenswerter sein, den Regenwald zu erhalten als ihn für Weideland oder Sojaanbau zu roden. Insofern sind die folierte Gurke und das Auto schon Themenbausteine, die sich aber in eine große Strategie einfügen müssen, sonst ist es sinnlos.

Kann man den überhaupt die großen Linien im Blick behalten, wenn schon das Alltägliche zur Wissenschaft wird? Viele Verbraucher werfen zum Beispiel verdreckte Pizzakartons und Kassenzettel ins Altpapier, beides gehört aber in den Restmüll. Andere spülen ihre Joghurtbecher aus, vergessen aber den Aludeckel abzureißen. Brauchen wir mehr Aufklärung oder einfach andere Verpackungen?

Matthias Fricke: Recycling kann nur funktionieren, wenn alle Beteiligten ihren Beitrag leisten. Politik und Verwaltung müssen den gesetzlichen Rahmen schaffen und kontrollieren, Produzenten und Handel müssen wiederverwertbare Verpackungen einsetzen und Betreiber von Sortieranlagen die vorgeschriebenen Verwertungsquoten erfüllen. Eine entscheidende Rolle spielen natürlich die Verbraucher. Nur wenn sie ihre Verpackungsabfälle schon zu Hause richtig trennen, kann der Verwertungskreislauf in Gang kommen. Dazu haben die dualen Systeme zum Beispiel die bundesweite Informationskampagne „Mülltrennung wirkt“ an den Start gebracht.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich längst nicht jede Verpackung problemlos trennen und recyceln lässt. Manche Käse-Verpackung beispielsweise besteht aus mehreren verschiedenen Kunststoffen und Klebern. Selbst modernste Sortieranlagen stoßen hier an ihre Grenzen. In unserer Unternehmensgruppe beraten wir deshalb auch Hersteller, wie sie ihre Verpackungen recyclingfreundlich gestalten können, Stichwort „Made for Recycling“. Dazu haben wir gemeinsam mit Wissenschaftlern eine Bewertungsmethode entwickelt. Der Gedanke dahinter: Wenn das Recycling schon beim Verpackungsdesign mitgedacht wird, können mehr Wertstoffe zurück in den Kreislauf fließen.

Leider scheinen im Moment noch die Marktanreize zu fehlen, damit „Made for Recycling“ der Regelfall ist. Welcher Beschluss der Politik wäre wünschenswert, um Nachhaltigkeit und Umweltschutz hier und insgesamt gerecht zu werden?

Ralf Utermöhlen: Der Beschluss, die Umweltfolgekosten per Gesetz in die Preise jedweder Produkte und Dienstleistungen einpreisen zu müssen. Ein Teil der staatlichen Mehreinnahmen dadurch müsste in die Stärkung unterer Einkommensgruppen fließen, um die soziale Balance zu erhalten. Das hätte eine echte Lenkungswirkung, die private Konsummuster verändern und Investitionen auslösen würde, weil zum Beispiel Energie, Fleischprodukte und Einwegkunststoffartikel dann einfach zügig teurer würden und Effizienzmaßnahmen lohnenswerter. Der Brennstoffemissionshandel, der 2021 startet, geht zwar in diese Richtung, aber eben nur für Energie und zu zögerlich.

Wagen wir einen Blick in die Zukunft. Können wasserstoffbetriebene Flugzeuge, Fleisch aus dem Reagenzglas, Elektroautos und vielleicht sogar Geoengineering ein Lösungsweg sein oder lautet die einzig mögliche Antwort, um wirklich eine Klima- und Umweltkatastrophe abzuwenden: Wir müssen uns in Verzicht üben?

Ralf Utermöhlen: Ich möchte vom Standpunkt der Lebensqualität aus antworten. Wenn jemand der Meinung ist, zur Lebensqualität gehört es, nur mal über´s Wochenende nach Mallorca fliegen zu können, großvolumige Verbrennungsmotoren zu fahren, täglich Fleisch zu billigsten Preisen zu bekommen und jede Saison 15 neue Kleidungsstücke in den Schrank zu hängen, dann müsste die Antwort sein: Ja, auf diese Art von Lebensweise muss verzichtet werden. Aber gute Ernährung, Zugang zu Energie, regelmäßige Reisen und hochwertige, langlebige Kleidung werden zweifelsfrei auch in einer nachhaltigen Welt zur Verfügung stehen. Die Welt wird anders, aber nicht weniger komfortabel sein – insofern brauchen wir Lösungen wie emissionsfreies Fliegen (das dann so teuer sein wird, dass es eben nicht für gedankenlosen Schabernack genutzt wird), multimodale Mobilität, attraktive Reparaturdienstleistungen und schmackhafte, proteinhaltige Nahrung aus Pflanzen oder meinetwegen in-vitro-Fleisch. Der Weg in eine nachhaltige Gesellschaft birgt auch gewaltiges Potential für Innovationen – die Arbeit geht uns also nicht aus.

Wie steht es um die Zukunftstrends in der Abfallwirtschaft? Was bedeutet beispielsweise das Megathema Digitalisierung für ALBA? Haben wir bald einen Sensor mit 5G in der Mülltonne?

Matthias Fricke: Auch in der Abfallwirtschaft ist die Digitalisierung auf dem Vormarsch. In unseren Sortier- und Verwertungsanlagen sind digitale Technologien längst Alltag. Beispiel Nahinfrarot-Trennung (NIR): Die computergestützten optischen Systeme erkennen automatisch unterschiedliche Kunststoffe auf den Förderbändern und sortieren diese in Sekundenbruchteilen. Mittlerweile lassen sich sogar schwarze Verpackungen aus dem Abfallstrom heraustrennen. Auch künstliche Intelligenz hält mehr und mehr Einzug in unseren Anlagen. Bei ALBA in Leipzig beispielsweise ist ein so genannter Fast Picker im Einsatz. Der sensorgestützte Roboter-Greifarm trennt eigenständig Silikon-Kartuschen von gebrauchten Kunststoffverpackungen. Durch die zunehmende Automatisierung gelingt es uns, die Qualität der Recyclingrohstoffe immer weiter zu verbessern. Und auch schon bei der Erfassung sind digitale Veränderungen denkbar. Wenn also der Einsatz eines 5G-Sensors in der Abfalltonne einen nachhaltigen Mehrwert bieten sollte, ist das durchaus eine Option. Hierbei sind allerdings immer das Zusammenspiel aller Komponenten und dabei insbesondere auch das Gebührenmodell der jeweiligen Kommune zu berücksichtigen.

Kommen wir zur Schlussrunde. Wenn man sich beruflich so intensiv mit den Themen von Umwelt und Nachhaltigkeit beschäftigt, gibt es dann im privaten Umfeld überhaupt noch Potential, um die eigene Umwelt- und Nachhaltigkeitsbilanz zu verbessern?

Ralf Utermöhlen: Aber ja. Ernährung, Mobilität und Energieverbrauch sind die großen Stellschrauben für den Privatbereich – auch für mich. In meinem privaten Konsum, mit Naturstromversorgung, der Ernährung und bei meinen Dienstreisen, die ich fast sämtlich mit der Bahn erledige, bin ich schon gut und nach sechs Jahren mit einem Plug-in-Hybrid kommt jetzt ein rein elektrisches Auto. Mein Haus, dass ich erst vor zwei Jahren erworben habe, hat leider noch eine fossile Heizung. Das muss ich in jedem Fall ändern, wobei das aufgrund des Baujahres und der Gesamtanlage technisch ziemlich anspruchsvoll wird – wie überhaupt die energetische Sanierung im Bestand eine der großen Aufgaben der nächsten Jahre ist.

Matthias Fricke: „Einfach Mehrfach“, „Teilen statt Besitzen“ oder „Reparieren statt Wegwerfen“ – das sind für mich nicht nur Phrasen, sondern ich versuche, diese Konzepte in meinen Alltag zu integrieren. Genauso wie einen nachhaltigen Konsum. So bevorzuge ich wann immer möglich regionale Produkte. Wichtig ist die Bereitschaft, alte Gewohnheiten zu überdenken und auch einmal die Komfortzone zu verlassen.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Stadtglanz Print-Ausgabe 16 / Oktober 2020.

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