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6. Dezember 2022

Deutschland kein Wintermärchen

Die Politik ist das Paradies zungenfertiger Schwätzer. (G.B. Shaw)

Der Zweck von Agilität ist, wirksame, schnelle, effiziente und dynamische Systeme und Strukturen zu schaffen. So wie die deutsche Regierung in Corona-Zeiten. Und das war jetzt ein böser Witz. Sie müssen nicht lachen.

Das lateinische agilis bedeutet wendig, rege, beweglich. So möchten wir doch alle sein, und das wünschen wir uns natürlich von den politischen Entscheidungsträgern. Die Herausforderungen unserer Zeit gehen ja noch weit über die Pandemie hinaus.  Umwelt und Klima sind die großen Themen. Digitalisierung. Bildung. Mobilität unter veränderten Bedingungen. Die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen, bezahlbarer Wohnraum für alle. Mehr soziale Gerechtigkeit. Die menschenwürdige Behandlung von Geflüchteten in Europa.

Deutschland aber verharrt schon länger in diesem seltsamen Stillstand. Noch nie gingen so viele Menschen in den Irrgärten politischer Entscheidungen verloren – und die Pandemie hat das brutal offenbart. Selbständige ringen verzweifelt um ihre Existenz. Künstler versinken im Orkus der Systemirrelevanz. Kinder und Jugendliche wissen nicht mehr, wann und wie sie ihre Ausbildung schaffen können. Geflüchtete sitzen seit Jahren im Duldungsmodus fest und können weder vorwärts noch zurück. Pflegekräfte bekommen nun doch keine höheren Tarifverträge und dürfen weiter für wenig Geld hart arbeiten. Viele Menschen können die Mieten nicht mehr bezahlen, während in allen Städten luxussaniert wird und Zweit- und Drittwohnungen leer stehen. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer - und der Mittelstand, er siecht lautlos und scheinbar wehrlos dahin.

Natürlich gibt es Länder mit viel schlimmeren Regierungen, Brasilien zum Beispiel. Ganz sicher ist Politik ein schwieriger Seiltanz über Interessenkonflikten und Machbarkeiten. Doch die Behäbigkeit, ja Trägheit unseres Staatsgebildes sucht seinesgleichen. Nach über einem Jahr Corona fällt denen in Berlin wirklich nichts anderes ein, als tagelang über eine landesweite nächtliche Ausgangssperre zu streiten? Und darüber, wer als Kanzlerkandidat aufgestellt wird? Wäre es eine/einer, die/der die Deutschland-AG im Sinne der Agilität runderneuern wollte, ich würde sie/ihn sofort wählen!

Perfekt funktioniert hierzulande doch vor allem eines: die Bürokratie.

Darin sind wir Weltmeister, immer noch. Behäbige Bürokratie in Arbeits-, Sozial- und Gesundheitsämtern. Teilweise noch per Fax. Die effiziente Rückverfolgung der Infektionsketten ist der zweite Witz in dieser Kolumne, und ich wiederhole gern, dass es nichts zu lachen gibt. Es ist ernst. Wir haben so viele innovative und agile Menschen in Deutschland. Soziale und engagierte Bürgerinnen und Bürger. Wir sind - gemessen an anderen - immer noch ein reiches Land. Aber wir sind arm an Visionären und Visionen. An wirksamen, schnellen und effizienten Systemen, die uns - unter anderem - aus den bleiernen Lockdowns holen und überall dort wirken, wo es wirklich nötig ist. Sicher ist Gerechtigkeit kompliziert. Aber unsere Politiker machen es sich zu einfach in diesen harten Zeiten. Wenn Kanzlerin Merkel von der „Notbremse“ spricht (der wievielten eigentlich?), dann ist darauf hinzuweisen, dass diese Tat bestraft wird. Zumindest in Zügen.

Christine Grän

wurde in Graz geboren und lebte in Berlin, Bonn, Botswana und Hongkong, bevor sie nach München zog. Die gelernte Journalistin wurde durch ihre Anna-Marx-Krimis bekannt, die auch verfilmt wurden. Sie veröffentlichte unter anderem die Romane „Die Hochstaplerin“, „Hurenkind“ und „Heldensterben“. Zuletzt erschienen „Amerikaner schießen nicht auf Golfer“, „Sternstraße 24“ und „Glück am Wörthersee“ im ars vivendi Verlag.

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