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Y-JOBS

23. November 2021

Die Krümel-Beziehung

Wenn vom Kuchen nicht viel bleibt

(Fotografie: fotolia/Natalia Zakharova, klikk)

Neuerdings fällt ein Beziehungstyp auf, der viel mit Angst vor Intimität auf beiden Seiten verbunden ist: die „bindungsängstliche Beziehung“, kurz: „Krümel-­Beziehung“, weil dort vom „Kuchen“ nur noch „Krümel“ übrigbleiben. Es ist schwer zu erkennen, dass man in einer solchen Beziehung steckt, da diese über viele Jahre gehen kann, und man mit Bindungsangst eher den Dauer-Single assoziiert.

Es ist die Verbindung von einem Partner (das ist keineswegs immer der Mann), der Angst vor zu viel Nähe, Verbindlichkeit, Intimität hat. Darunter liegt oft das Gegenteil, die tiefliegende Angst, verlassen zu werden und nicht gut genug zu sein für echte Nähe und Intimität. Diesen Partner nenne ich den Minuspol. Auf der anderen Seite (das ist nicht immer die Frau) gibt es einen Partner mit einem ängstlich-besorgten Bindungsstil, der immer zu kurz kommt, mehr Nähe, mehr Verbindlichkeit, mehr Sex will. Darunter liegt, meist kaum erkennbar, eine eigene Nähe-Angst. Warum sonst würde man sich immer wieder Partner suchen, die nicht wirklich verfügbar sind? Dies ist der Pluspol. So sind viele Menschen liebesambivalent, haben also einen Anteil Nähe- und Verlustangst in sich. Plus- und Minuspol ziehen sich dabei magisch an.

Oft starten solche Beziehungen schnell und intensiv, weil beide sich darum sorgen, was passiert, wenn die Ängste nach der ersten Verliebtheit auftauchen. Irgendwann fängt der Minuspol an, sich zurückzuziehen (der Grund ist Angst vor Nähe), was die Verlustangst des Pluspols triggert. Meist setzt sich der Partner mit seinen Wünschen durch, der weniger will. Die Beziehung wird dünner, wie es für den Bindungsängstler (scheinbar) richtig ist. Der Pluspol fängt an, alles Mögliche auszuprobieren: jammern, klagen, sich selbst zurückziehen, Bücher zum Thema lesen usw. Leider ändert das wenig an der Grunddynamik. Oft gibt der Pluspol irgendwann auf und akzeptiert zähneknirschend eine Beziehung, in der es entweder keinen Sex mehr gibt, oder man sich nur einmal in der Woche sieht. Warum geht er nicht einfach? Das hängt oft mit der eigenen Biografie zusammen, aber auch mit der Hoffnung, die zuletzt stirbt. Und dann hat man ja schon „so viel investiert“. Bildlich gesprochen gewöhnt man sich immer mehr daran, dass es nur noch Krümel gibt – und keinen Kuchen mehr.

Karl kommt auf meine Couch. Er ist seit einem Jahr mit einer Frau zusammen, die sich immer mehr zurückzieht, obwohl sie betont, wie sehr sie ihn liebe. Er ist verwirrt, möchte ihr zwar Zeit geben, sieht aber immer mehr, dass sie sich einfach nicht zu ihm bekennt. So geht sie zu Familienfesten allein, plant Urlaub ohne ihn und lässt viele Gelegenheiten aus, in denen man sich sehen könnte. Wir erarbeiten, was er sich wünscht, und wie er dies – im Sinne der Eigenliebe – vorbringen kann. Seine Partnerin scheint erst sehr verständnisvoll, und verspricht, viele Dinge zu ändern. Auf die Dauer zeigt sich aber wieder das Muster, dass es viele schöne Worte gibt, aber die Taten fehlen und viele Versprechen werden letztlich gebrochen. Karl braucht einen Realitätsabgleich, dass seine Wünsche völlig in Ordnung sind und nicht etwa „anhänglich“. Aufgrund der Situation in seiner Herkunftsfamilie ister zu sehr daran gewöhnt, dass es selten um ihn geht. Als Silke ihn schließlich zu Weihnachten auslädt, sieht er, dass die Beziehung endgültig im „Krümel“-Status angekommen ist. Obwohl er noch viele Gefühle hat, verlässt er Silke, um nicht weiter etwas hinterherzurennen, dass er doch nie bekommen wird.

Christian Hemschemeier

(Jahrgang 1967) ist seit 2000 selbständig als Psychotherapeut, Paartherapeut und Coach. 2004 gründete er alstertal-­coaching für die Beratung in Unternehmen, 2009 das Institut für Integrative Paar­therapie zur Ausbildung von Paar­therapeuten. Seit letztem Jahr ist er zunehmend tätig als YouTuber eines Kanals zu Dating, Beziehung & Liebe und entwickelt Online-Kurse und Seminare in diesem Bereich. www.liebeschip.de

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