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Y-JOBS

13. Januar 2022

Das Braunschweig Wolfsburg Sofa

Bildungsbedarf?

(Fotografie: Marc Stantien)

STADTGLANZ war im Interview mit Dr. Nari Kahle – Leiterin für soziale Nachhaltigkeit & xStarters der Volkswagen AG, Christoph Steindorff – Vorsitzender der Digitalen Gesellschaft Wolfsburg (DIGES Wolfsburg e.V.), Michel Junge – CEO der phaeno gGmbH und Dennis Weilmann – Dezernent für Wirtschaft, Digitales und Kultur der Stadt Wolfsburg.

Gemeinsam sprachen wir über die Veränderung von Bildung im Wandel der Digitalisierung und ob es heut­zutage überhaupt noch an Bildung bedarf, wenn man doch eh jederzeit alles googlen kann.

Wie kann es gelingen, junge Menschen – also die Arbeitnehmer von Morgen – auf das digitale Arbeitsleben vorzubereiten?
Steindorff  Zunächst sollten wir die jungen Menschen nicht unterschätzen. Für die meisten ist die Verwendung digitaler Werkzeuge, wie sie in unserer Arbeitswelt Standard sind, kein Problem. Doch um diese Arbeitswelt zu verbessern und die zukünftigen Werkzeuge zu entwerfen, benötigen sie mehr. Sie müssen wissen, wie das alles funktioniert und was überhaupt möglich ist. Es ist unsere Aufgabe, ihnen das zu zeigen.
Junge  „21st century skills“ fördern: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken (4K-Modell), also gesamthaft die Problemlösefähigkeiten im Team fördern. Dies sind aber keine Kompetenzen, die neu sind. Diese Ziele hat Schule schon seit über 20 Jahren im Visier.
Dr. Kahle  Eines unserer Flaggschiffprogramme im Volkswagen-Konzern ist das Innovationsprogramm „xStarters“ und setzt beim Thema Zukunftsfähigkeiten an: Wir wollen junge Menschen in ganz Deutschland für digitale soziale Innovationen begeistern, zu eigenen Lösungen inspirieren und dabei ganz nebenbei Zukunftskompetenzen vermitteln.

Welche Rolle kommt dabei den Schulen zu?
Steindorff  Es ist die Aufgabe der Schulen, unseren Kindern zu erklären, wie die Welt funktioniert. Daher lernen alle in der Schule seit Jahrzehnten z. B. Biologie, Physik
und Chemie, auch wenn sie später vielleicht keinen Beruf in einem dieser Bereiche ergreifen. Unsere Welt hat sich weiterentwickelt und wir sind permanent in allen Bereichen unseres Lebens von Digitaltechnik umgeben, aber dieser so wichtige Bestandteil unserer Welt wird unseren Kindern nicht erklärt. Warum? Es ist unbedingt erforderlich, dass der Informatikunterricht an unseren Schulen verpflichtend wird. Doch wie soll das gelingen, wenn nur 0,1 % der Lehramtsabsolventen die Qualifikation dazu mitbringen? Hier herrscht dringender bildungs­politischer Handlungsbedarf.
Dr. Kahle  Schulen müssen die künftigen Schüler-Generationen zunehmend auf eine digitalisierte Arbeitswelt vorbereiten. Dazu gehört der Einsatz von digitalen Medien-
und Lerninhalten und Kenntnisse, wie Lernen im digitalisierten Umfeld, im besten Falle auch angebotene Programmier- und Robotikkurse sowie auch der gute digitale Umgang mit Informationen und Daten. Gleichermaßen gehört dazu aber auch die Vermittlung von nicht-digitalen Zukunftskompetenzen, wie beispielsweise Lösung komplexer Probleme, kritisches Denken, Adaptionsfähigkeit, unternehmerisches Verständnis aber auch Kreativität.

Inwieweit wird sich Bildung durch Digitalisierung weiter verändern?
Steindorff  Die Digitalisierung bietet ein riesiges Potenzial, Bildung zu verbessern. Mit digitalen Lehrmitteln ist es möglich, auf den einzelnen Schüler – entsprechend seiner Talente, seines Wissens­tands und seines Lerntempos – zugeschnittene Lehrangebote
zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig müssen wir aber auch die Gefahren im Blick behalten. Die digitalen Lehrmittel ermög­lichen es den Lehrern theoretisch zu verfolgen, wie oft, wie lange und mit welchem Erfolg ein Schüler damit gearbeitet hat. Wollen wir solch orwellsche Zustände?
Dr. Kahle  Eine Grundlage an digitalen Zukunftsfähigkeiten muss so früh wie möglich vermittelt und Bestandteil einer jeden (schulischen) Ausbildung werden, um unsere Gesellschaft bestmöglich auf die Zukunft und ihre Herausforderungen vorzubereiten.
Weilmann  Bereits heute gibt es digitale Angebote in Schulen, wie zum Beispiel Antolin, eine Anwendung zur Leseförderung mit rund 94.000 Kinder- und Jugendbüchern. Teilweise werden Lehrervorträge durch Erklär-Videos ersetzt, um im Unterricht mehr Zeit für die praktische Anwendung zu haben und mit den Lehrkräften Fragen zu erörtern. Einige Wolfsburger Schulen gehen diesen Weg schon.

Macht es heutzutage überhaupt noch Sinn, klassische Ausbildungsberufe zu erlernen, wenn im Zuge der Digitalisierung die künstliche Intelligenz so weit entwickelt ist, dass eine Maschine oder ein Roboter die Aufgabe besser und schneller erledigt?
Steindorff  Gewiss wird der eine oder andere Beruf in Zukunft aussterben,
da ihn der technologische Wandel in Produktion, Handwerk und Dienstleistung überflüssig gemacht hat. Doch es gibt hier große Chancen. Viele einfache Arbeiten kann uns ein Roboter abnehmen, sodass wir uns auf die wichtigen Dinge kon­zentrieren können. Ein Beispiel: Ein Roboter in der medizinischen Pflege klingt zunächst vielleicht etwas gruselig. Doch wenn dadurch die Pflegekräfte Zeit haben, auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten einzugehen und auch mal ein aufmunterndes oder tröstendes Gespräch zu führen, haben alle gewonnen: Patienten und Pflegekräfte. Es würde sich in Zukunft also umso mehr lohnen, diesen klassischen Beruf zu erlernen, weil er attraktiver wird.
Junge  Soweit sind wir in der Entwicklung von künst­licher Intelligenz noch nicht – denke ich jedenfalls. Es ist aber sicher schon heute wichtig, dass man sich auch nach Abschluss einer Ausbildung bewusst ist, dass dies nur eine Etappe im lebenslangen Lernen darstellt. Die Bereitschaft, das Gewohnte in Frage zu stellen, offen für Neues zu sein und Veränderung auch als Chance zu begreifen, sind für mich die Haltungen, die heute schon wichtig – morgen jedoch unabdingbar sind.
Dr. Kahle  Die als besonders wichtig benannten Zukunftskompetenzen haben interessanterweise oftmals die Eigenschaft, dass sie besonders „menschliche“ Fähigkeiten darstellen – also genau die Fähigkeiten, die für Maschinen und künstliche Intelligenzen eher schwer zu automatisieren sind. Menschliche Emotionen lassen sich vielleicht vortäuschen, aber nicht ersetzen.
Weilmann  Das lässt sich pauschal sicher nicht beantworten, hier muss man Berufe individuell betrachten. Sicher ist, dass sich durch neue Anforderungen auch neue Berufsfelder entwickeln werden. Ein Arzt zum Beispiel wird durch KI profitieren. Die KI wird dem Arzt helfen, keine Kon­­stella­tionen zu übersehen und den Blick auf wichtige Aspekte lenken. Anderseits braucht es einen Menschen, der bei seinem Patienten sitzt, seine Lebenssituation versteht und schlussendlich bestimmt, welcher Behandlungsplan der Optimale ist. Die Rollen werden sich verändern, was sie aber immer schon taten – Fortschritt gab es schon immer.

Kinder und Jugendlichen beschäftigen sich heute auch in den Schulen frühzeitig mit Smartphones, Tablets, Cloud etc. Verlernen wir das analoge Lernen?
Junge  Es gibt Studien darüber, dass mit der Hand geschriebene Inhalte besser im Gehirn abgespeichert werden als getippte oder gelesene Inhalte. Das analoge Lernen, die Auseinandersetzung mit der Realität ist aber unabdingbare Voraus­setzung für das Entwickeln des rationalen Denkens, ohne dass die Verarbeitung digitaler und virtueller Inhalte gar nicht gelingen kann. Ein weitgehender Verzicht auf das Analoge, das Reale in der frühkindlichen Bildung wäre gar ein Kardinalfehler. Die Diskussion sollte sich also nicht darum drehen, ob eine bestimmte Lerntechnik analog oder digital ist, sondern wie gut sie ihren Zweck erfüllt.
Weilmann  Ich würde nicht von Verlernen sprechen – das Lernen verändert sich einfach, so wie es sich immer verändert hat. Das ist ein agiler Prozess. Früher schrieb man auf Tafeln, heute auf Whiteboards und demnächst auf Touchscreens. Aus meiner Sicht bietet die Digitalisierung hier großartige Möglichkeiten, den Lernprozess zu unterstützen.

Muss ich heute überhaupt noch alles wissen, wo ich doch zu jeder Zeit an jedem Ort googlen kann?
Steindorff  Niemand weiß alles! Und die Menge der verfügbaren Informationen steigt täglich an. Doch dies sagt nichts über deren Qualität aus. Ich muss also weiter­hin über einen soliden Grundstock an Wissen verfügen, damit ich in der Masse der Informationen nicht untergehe und die Spreu von Weizen trennen kann.
Junge  „Information at your fingertips!”, sagte Bill Gates 1994 für das Jahr 2005 voraus! Informationen, das Wissen der Welt, sind heute mit wenigen Klicks erreichbar! Trotzdem ist es entscheidend, Wissen und eigene Erfahrungen zu verschiedensten Themen auch im eigenen Kopf zu speichern: Kreativität entsteht aus der Verknüpfung von Erfahrung und Neugier! Dieses Verknüpfen, dieser konstruktive Prozess, muss immer wieder geübt werden. Und wo nichts zu verknüpfen ist, kann das Gehirn auch nichts Neues daraus konstruieren.
Dr. Kahle  Je mehr digitale und nicht-digitale Fähigkeiten zukünftige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitbringen, desto wertvoller werden sie für potenzielle Arbeitgeber. Aber auch die Fähigkeit „Digitales Lernen“ ist sicherlich eine wertvolle Kompetenz, um sich im Überangebot von digitalem Wissen und Informationen zurechtzufinden und sich auf wesentliche Informationen fokussieren zu können.
Weilmann  Es hat sich einiges ver­ändert: Was früher noch im Brockhaus nachgeschlagen wurde, kann man heute spielend leicht innerhalb von Sekunden über das Smartphone abrufen. Dennoch ist es wichtig, dass die elementaren Dinge über Schule, Ausbildung und das Studium vermittelt werden. Damit meine ich nicht nur die fachspezifischen Dinge für bestimmte Berufe, sondern es ist wichtig, ein Allgemeinwissen zu erwerben, das einen befähigt, Dinge kritisch zu hinterfragen. Hier müssen die Schulen die „21st century skills“ vermitteln: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und Kritisches Denken.

Digitale Bildung: Was muss getan werden, um die Generation 60+ bei der rasanten Digitalisierung mitzunehmen?
Steindorff  Mir stellt sich die Frage: Muss nur die Generation 60+ etwas dazulernen und aufholen oder müssen nicht wir, die die digitale Welt gestalten, lernen, das besser, einfacher zu machen? Wahrscheinlich stimmt beides.
Dr. Kahle  Die Erwartungen an die betriebliche Weiterbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – und somit an die Personalentwicklung – ist sicherlich groß: Der Bedarf an Zukunftsfähigkeiten bis 2023 (https://www.future-skills.net/future-skills-bedarf-bis-2023) umfasst viele Fähigkeiten, die erst seit einigen Jahren verstärkt Einzug in die betrieb­lichen Weiterbildungskataloge der Unternehmen finden. Dazu gehören Schlüsselkompetenzen, wie (digitale) Kollaboration, Agilität, digitales Verständnis aber auch unternehmerisches Handeln und Denken, Kreativität oder auch digitales Lernen.
Weilmann  Mit Veranstaltungsreihen wie der Smartphoneschule und Veranstaltungen wie dem DigiDay bieten wir gerade dieser Generation Möglichkeiten, den digitalen Weg mitzugehen. Mit der „Markthalle – Raum für digitale Idee“, die Anfang 2020 eröffnen wird, schaffen wir gemeinsam mit Volkswagen und dem VfL Wolfsburg einen Ort, an dem sich die Bürgerinnen und Bürger – von vorsichtig Interessierten bis zum Digital Native – treffen, sich informieren und in Kontakt mit den digitalen Themen kommen können. Hier sehe ich die optimale Umgebung für die Generation 60+, proaktiv am Prozess der Digitalisierung teilzuhaben.

Jens Richwien

Ehemaliger Fußball-Profi und Freizeit-DJ (Richy Vienna), war über 20 Jahre für die neue Braunschweiger tätig. Die letzten drei Jahre begleitete er STADTGLANZ als Objektleiter und Chefredakteur. Er ist seit Oktober bei der Hygia Gruppe beschäftigt, betreut dort das B2B-Business und arbeitet weiterhin als freier Redakteur.

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