Skip to main content

HARZGLANZ

1. September 2016

TIME IS HONEY

Doch beginnen wir mit dem Urknall.

„Herr: Es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren.
und auf den Fluren laß die Winde los.“

 

Eines der schönsten Gedichte der Welt. Ein Herbsttag, den Rilke in überirdische Verse fasste. Der Sommer ist vorbei, und die Uhren ticken zum Winter hin. Die Zeit, die so gnadenlos über uns hinweg- fegt. Ticktack.

Ein intergalaktischer Kracher, in dessen Spätfolge Planeten ihre Bahnen durchs Universum ziehen. Zum Beispiel die uns am nächsten gelegene Galaxie, die Andromeda, immerhin zweieinhalb Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt. Ach ja: die Erde. Vom Standpunkt des Universums gesehen ein Staubkörnchen, das um eine Sonne kreist. Allein die Milchstraße soll geschätzte 400 Milliarden Sonnenmassen haben.

Doch unsere Sonne wärmt nicht nur, sie ist auch für irdische Zeit zuständig. Wir nennen die Dauer einer Umkreisung der Sonne einen Tag und unterteilen ihn in 24 Stunden à 3.600 Sekunden. Ticktack. Vom Standpunkt des Universums aber ist diese unsere Zeit vollkommen bedeutungslos. Nicht mal ein intergalaktischer Hauch. Es lohnt sich, ab und zu in den Sternenhimmel zu sehen, um das zu begreifen. Es gibt wenig Irdisches, das schöner wäre.

Doch waren die Erdbewohner schon ziemlich früh darauf gepolt, die Zeit zu vermessen. Als erste die Sumerer und Ägypter mit der Erfindung der Sonnenuhr so um 3000 vor Christus. Sie war nur sehr unpraktisch bei Bewölkung und Regen, weshalb arabische Ingenieure sehr viel später Uhren erfanden, deren Zahnräder und Gewichte mit Wasser angetrieben wurden. Wieder verging viel Zeit, bis circa 1300 nach Christus mechanische Uhren in Europa auftauchten. Ticktack. Von nun an war die Evolution der Zeitmessung nicht mehr aufzu­halten. Aber schon Laotse wusste: „Die Zeit ist ein großer Lehrer, doch sie erschlägt ihre Schüler.“

Die Zeit, sie treibt uns vor sich her auf der Suche nach Sinn und Unsinn, Schönheit und Erfolg, Liebe und Erfüllung. Uhren sind nicht mehr nur Zeitmesser, sondern auch Statussymbole – und je teurer und exklusiver, desto kostbarer erscheint die Zeit. Nur ist sie für alle gleich – so viel Gerechtigkeit muss sein auf Erden!

Ach, die Zeit. Einstein hat von ihr geträumt, bevor er die berühm­teste Formel der Welt entdeckte. E = mc². Schwerkraft entsteht, wenn Raum und Zeit sich krümmen.

Ich versteh das immer noch nicht, weil ich in Physikstunden nur geträumt habe, was mir heute sehr leid tut. Verlorene Zeit, und wenn es eine Uhr gäbe, für die ich mich verschulden würde, dann müsste sie imstande sein, die Zeit hin und wieder anzuhalten. Oder besser noch: zurückdrehen. Mit dem Kopf von heute das gestern leben. Immer Sommer, immer Liebe, immer Glück.

Oder halt: Das könnte auch zum Alptraum werden. Ist nicht gänzlich durchdacht, diese phantastische Uhr. Und ich will noch nicht mal die von Apple haben. Vielleicht, weil ich mehr Zeit für mich ganz allein brauche. Um Rilke zu lesen. Musik von „Beirut“ zu hören. Oder im Park sitzen und zuschauen, wie bunte Blätter zu Boden gleiten. Die Schönheit der Schöpfung be­staunen. Time is honey. Time is money. Wir haben die Wahl. TICKTACK.

Christine Grän

wurde in Graz geboren und lebte in Berlin, Bonn, Botswana und Hongkong, bevor sie nach München zog. Die gelernte Journalistin wurde durch ihre Anna-Marx-Krimis bekannt, die auch verfilmt wurden. Sie veröffentlichte unter anderem die Romane „Die Hochstaplerin“, „Hurenkind“ und „Heldensterben“. Zuletzt erschienen „Amerikaner schießen nicht auf Golfer“, „Sternstraße 24“ und „Glück am Wörthersee“ im ars vivendi Verlag.

Mehr aus dieser Rubrik





Zur Startseite