Skip to main content

HARZGLANZ

31. Mai 2022

Agilität lässt sich nicht verordnen

Sie muss Teil der Unternehmens-DNA sein

(Fotografie: AdobeStock_f reshidea, Lucas Bubenitschek/Öffentliche Versicherung Braunschweig)

Geschäftsmodell und Organisation innerhalb von kurzer Zeit auf neue Anforderungen des Marktes vorbereiten und sich ergebene Chancen aufgreifen – oder kurz: Agilität.

Die Öffentliche Versicherung Braunschweig ist ein Unternehmen mit rund
260-jähriger Geschichte – und war in dieser Zeit stets einem Wandel unterlegen. Was sich aber deutlich verändert hat: Komplexität, Interdisziplinarität und Geschwindigkeit. Was bedeuten all diese Strömungen für das Braunschweiger Unternehmen? Im Interview mit Heiko Klostermann, Holger Barbier und Deana Drazkowski sind wir in diese Welt eingetaucht.

Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons formulierte in den 1950er-Jahren das sogenannte „AGIL-Schema“, wobei er systemtheoretische Grundlagen aufstellte. Demnach müsse ein sich selbst erhaltendes soziales System vier Fähigkeiten haben: „Adaption“, die Reaktion auf äußere Bedingungen; „Goal Attainment“, die Verfolgung gemeinsamer Ziele; „Integration“, die Schaffung einer Gemeinschaft sowie „Latency“, die Aufrechterhaltung eines kulturellen Wertesystems. Auch die Kollegen des Hauses haben im Zuge ihres Prozesses ein eigenes Akronym zu „AGIL“ aufgestellt, das beinhaltet: Anpassungsfähigkeit, Geschwindigkeit, Innovation und Leidenschaft.

Heiko Klostermann - Warum das so wichtig ist?
„Die Welt wird einfach komplexer – Rahmenbedingungen, technische Möglichkeiten & Co. verändern sich immer schneller“, skizziert Heiko Klostermann, Bereichsleiter für Unternehmens- und Personalstrategie. „Bisher ging es darum, komplizierte Probleme zu lösen, jetzt sind es vor allem komplexe Probleme.“ Im Grunde ist die Herausforderung – zugespitzt formuliert – einfach dargestellt: Jeden Tag wird alles anders sein. „Wenn Du an einer Stellschraube drehst, kann das morgen schon andere Auswirkungen haben als heute noch.“ Daher sei es essenziell, einen Schritt zu gehen, dann zu schauen und die Lage stets neu zu bewerten. Klostermann treibt die agile Transformation des regionalen Versicherungsunternehmens ganz wesentlich mit an, hat vormals Themen wie Change Management und Innovationsmanagement mit angestoßen.

Agilität – eine Kulturfrage

Holger Barbier
„Wir wollen näher an den Kundenbedürfnissen sein“, erklärt Holger Barbier, Programmmanager für „Digital Customer Experience“, kurz DCX. „Bei den Bedürfnissen und Wünschen müssen wir genau zuhören, auf sie achten und sie konsequent in unsere Arbeit mit einbeziehen.“ Immer wieder muss die Frage gestellt werden: Trifft dieser Service oder dieses Produkt die Kundenbedürfnisse oder nicht? „So gewinnen die Lösungen einerseits an Qualität, andererseits an Geschwindigkeit.“ Die Zeiten, in denen Konzepte monatelang hinter verschlossenen Türen vor sich her köchelten: Bei der „Öffentlichen“ sind sie vorbei.

Heiko Klostermann
„Es geht nicht mehr um die 120-Prozent-Lösung – sondern darum, Neues auf den Weg zu bringen und dann im Verlauf weiterzuentwickeln.

Wenngleich das alles sehr strukturorientiert klingen mag: Am Ende ist es Kopfsache. „Wir sprechen hier nicht über Methoden, sondern über Kultur“, so der Bereichsleiter. Zweifelsohne hängt dieser Vorgang mit neuen Methodiken zusammen, im Mittelpunkt aber steht die Kulturfrage. „Agilität lässt sich nicht verordnen. Sie muss Teil unserer Unternehmens-DNA sein – und dafür braucht es Zeit.“ Und dafür braucht es alle(s): Rückenwind von Vorstand und Geschäftsführung sowie das Engagement der vielen Kolleginnen und Kollegen im Unternehmen.

Deana Drazkowski
„Die Mitarbeiter werden viel direkter in das Unternehmen einbezogen“, erklärt Programmassistentin Deana Drazkowski, die im Hause viele Projekte im Kontext des Agilitätsprozesses mit begleitet. „Die Arbeit passiert so mehr auf Augenhöhe, auch spielen Eigenverantwortung und Spielräume eine andere Rolle.“ Die Entscheidungsträger sitzen nicht irgendwo und beschließen irgendwas, was irgendwann wieder zu einem zurückkehrt, stattdessen können die Mitarbeitenden die Prozesse selbst mitgestalten. „So steigt natürlich das persönliche Interesse an positiven Ergebnissen“, beobachtet Drazkowski.

Die Bedeutung des Scheiterns

Deana Drazkowski
Wer Prozesse selbst aus- und mitgestalten sowie mitbestimmen soll, der muss auch mit den nötigen Freiheiten ausgestattet sein. Das Unternehmen legt Wert darauf, die Kollegen mit den entsprechenden Ressourcen auszustatten. „Man muss auch die Möglichkeit haben, die Dinge selbst umsetzen zu können“, bekräftigt die Programm-assistentin. „Manchmal fällt es dann am Anfang noch etwas schwer, entscheidungsfreudig zu sein, Fehler zu machen.“ Das ist nicht verwunderlich: Früher war es in vielen Betrieben generisch angelernt, für Entscheidungen zur Führungskraft zu gehen und Fehler bestmöglich zu vermeiden. Wenngleich das bedauerlicherweise auch bedeutet haben könnte, dass dafür lieber ein neuer Schritt vermieden wurde.

Heiko Klostermann
Dabei ist das Ausprobieren so wichtig. Und das Scheitern ebenfalls. „Fehler dürfen passieren – und sie dürfen übrigens auch gefeiert werden“, schildert Klostermann. Ob es das in der Vergangenheit schon gab? Der Bereichsleiter lacht. „Natürlich.“ In einem Fall war eine Versicherung an ein Produkt geknüpft. Die Absicherung hätte also nur Sinn ergeben, wenn jemand das eigentliche Produkt kauft.

Holger Barbier
Das Problem daran: „Es wurde einfach zu wenig nachgefragt.“ Barbier fällt ein weiteres Beispiel ein: Die Kollegen waren dabei, eine eigenständige Fahrradschutz-Versicherung zu entwickeln. Im Laufe der Entwicklung wurde dann immer klarer, „dass diese eigenständige Versicherung überhaupt keinen Markt hat“. Der Ansatz wurde schließlich in der Hausratsversicherung anderweitig untergebracht. „Die Grundidee war nicht falsch. Derweil können wir froh sein, dass wir während des Prozesses dazugelernt haben.“

„Man muss es spüren!“

Heiko Klostermann
Erfreut ist der DCX-Programmmanager indes auch über die Tatsache, dass an diesen agilen Vorgängen alle Seiten mitwirken. Wenn früher Produktmanager entsprechend ihrer Aufgabe Produkte entwickelt haben – wirken heute alle gemeinsam auf die Erarbeitung ein. „Wir sind etwa ständig im Austausch mit unseren Kunden sowie mit unseren Geschäftsstellen, die ein sehr feines Gespür für Bedürfnisse haben“, ergänzt Klostermann. Hinzu kommen gesonderte, interne Formate wie etwa „Sprint Partys“, in denen die jeweiligen Teams ihre Zwischenergebnisse vorstellen und sich direktes Feedback von den Kollegen abholen. Ein crossfunktionaler Ansatz, der den eigenen Horizont spürbar erweitert.

In all diesen Formaten, Konzepten und Ansätzen für die Kollaboration der Mitarbeitenden wird deutlich, wie wichtig dem Unternehmen die damit verbundene Kulturfrage ist. Barbier fasst zusammen: „Worum es doch eigentlich geht – Mut, Offenheit, Feedback. Um gemeinsame Werte, ein Prinzipienverständnis. Und eben das eigene Mindset.“ Dieser Weg wird permanent beschritten, denn agile Transformation höre niemals auf. Wie weit das eigene Unternehmen auf diesem Weg ist, das lässt sich kaum sehen, „vielmehr muss man es spüren“.

Falk-Martin Drescher

studierte Stadt- und Regionalmanagement und ist gelernter Quartiersmanager, engagiert sich selbst ehrenamtlich als Vorstandsvorsitzender des Braunschweiger Kultviertels. Im Medienbereich selbstständig, neben seiner journalistischen Tätigkeit als Konzepter, Moderator und im Bereich Influencer Relations aktiv. Mit dem The Dude-Newsletters (www.meett hedude.de) informiert er zudem jeden Montagmorgen über ausgewählte Events und Neuigkeiten aus der Region.

Mehr aus dieser Rubrik





Zur Startseite