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HARZGLANZ

2. Mai 2023

Kreativ, produktiv und erfolgreich! – Die Entwicklung der regionalen Musikszene im Spiegel der Jahrzehnte

Die Musikszene in Braunschweig

und der gesamten Region mag nicht mit den pulsierenden Metropolen wie Berlin, Hamburg, Köln oder München vergleichbar sein, dennoch hat sie bis heute immer wieder Künstler hervorgebracht, die bundesweit im Rampenlicht standen und Chart-Erfolge feierten.

Einige Akteure „Made in 38“ verschwanden noch schneller wieder von der Bildfläche als sie gekommen waren, andere hielten sich zumindest eine ganze Zeit, wiederum andere wurden zu veritablen Dauerbrennern. Ein naturgemäß unvollständiger Abriss.

Eine aus hiesiger Perspektive ausgesprochen interessante Dekade waren die 1980er-Jahre. Die Neue Deutsche Welle machte auch vor Braunschweig und der Region nicht Halt. Die Band FEE (hervorgegangen aus der bereits 1970 gegründeten Funk-Jazz Band Holde Fee) veröffentlichte im Zeitraum von weniger als fünf Jahren vier auch unter kommerziellen Gesichtspunkten erfolgreiche Alben, von denen wohl insbesondere das 1981 erschienene und mehr als 150.000 Mal verkaufte „Notaufnahme“ mit der dazugehörigen Single „Amerika“ sowie das ein Jahr später veröffentlichte „Rezeptfrei“ mit der Ohrwurm-kompatiblen Nummer „Schweine im Weltraum“ im kollektiven Gedächtnis geblieben sind. Und heute? Nachdem Sänger Tom Ruhstorfer Ende 2021 verstarb, sind Drummer Ralli Lewitzki und Keyboarder Lothar Brandes die letzten FEE-Originalmitglieder, die an der vor einigen Jahren ins Leben gerufenen Nachfolgeformation „FEE - total recall” beteiligt sind. Lewitzki trommelt darüber hinaus in verschiedenen Bands (u.a. Hawkids, Pigblood) und organisiert bis heute das internationale Drummer-Meeting in Salzgitter (in diesem Jahr vom 6. bis zum 8. Oktober), bei dem sich alljährlich weltbekannte Band- und Studioschlagzeuger die Klinke in die Hand geben. Gitarrist Andreas Becker spielte zwischen 1989 und 2004 in der Band von Peter Maffay und komponierte für ihn auch einige Lieder.

Die 80er: NDW und Co.

Außer FEE waren im Radio zur damaligen Zeit beispielsweise auch Clit zu hören. Die Diskografie des bis 1985 aktiven Quintetts umfasste immerhin zwei LPs (eine beim Major Teldec) und vier Singles. Der 1982 veröffentlichte Mini-Hit „Keine Probleme Marlene“ ist noch heute auf Youtube zu finden. Den Mantel des Vergessen-werdens hat die Zeit darüber freilich ebenso gelegt wie über das Oeuvre anderer Bands mit Vinyl-Veröffentlichungen wie International (um Okerwelle-Geschäftsführer Wolfram Bäse-Jöbges an den Drums) oder Shampoo (von Unternehmer Peter Streilinger einst aus Heidelberg importiert). Abseits des NDW-Mainstreams veröffentlichte die 1980 in Braunschweig gegründeten Deutschpunk-Band Daily Terror eine beeindruckende Anzahl von Studioalben. Mit ihrem rohen, aggressiven Sound und energiegeladenen Live-Auftritten prägten die textlich nicht immer unumstrittene Band um den inzwischen verstorbenen Sänger „Pedder“ Teumer die Punkrock-Szene des Landes entscheidend mit. Bei Fans und Hooligans von Eintracht Braunschweig avancierte insbesondere die mitgröhlkompatible Nummer „Schluckspecht“ zum Hit:

Hamburger Straße, ein Gewühl
Schluckspechte suchen sich ihr Ziel
Stadion Gegengerade
Dafür ist keine Mark zu schade …

Bei einigen Ü50-Stadiongängern lösen diese Zeilen noch heute Gänsehaut aus.

Die 90er: Die Region als musikalische Wundertüte

Noch vielfältiger als das Vorgängerjahrzehnt gestaltete sich die Musiklandschaft der 1990er-Jahre. 1992 in Braunschweig gegründet, zählten Such a Surge zu den bekanntesten Vertretern des Crossover-Genres in Deutschland. Mit ihrem unverwechselbaren Stil, der Elemente aus Metal, Rap, Punkrock, Hardcore und Jazz vereinte, gelang es der Band, schnell eine treue Fanbase aufzubauen. Ihre in Eigenregie aufgenommene EP „Gegen den Strom“ sowie ihr beim Major Epic Records veröffentlichten Debütalbum „Under Pressure" aus dem Jahr 1995 brachte ihnen erste. Besonders die Singles „Gegen den Strom" und „Schatten" wurden zu Genre-Hits. 1996 folgte das zweite stilistisch ähnliche Album „Agoraphobic Notes“, ehe sich die Band ab dem dritten Werk „Was Besonderes" zumindest vorübergehend dem Mainstream öffnete. Die Band experimentierte bis zur Auflösung im Jahr 2006 weiter mit verschiedenen Musikstilen und schuf Songs wie „Gegen den Strom", „Tropfen" und „Ich lebe" – Titel, die noch heute zu den Klassikern der Band gehören.

Keimzelle vieler musikalischer Aktivitäten in dieser Zeit war das von Matthias Lanzer zu Beginn der 1990er-Jahre gegründete Label Rap Nation Records junge Braunschweiger Künstler wie die HipHop-Formation State Of Departmentz (der zeitweilig auch MC René angehörte, der insbesondere in den Nullerjahren mit seinen Alben chartete, kurzzeitig beim Musiksender VIVA moderierte und zuletzt vor knapp drei Jahren mit „Irgendetwas stimmt“ ein durchaus beachtenswertes Spätwerk vorlegte), Jazzkantine-Rapper Cappuccino und Phase V mit Rapper Aleksey unter Vertrag hatte, die in der Folge teilweise bundesweite Erfolge verbuchen konnten. Insbesondere Cappuccino, der heute unter seinem bürgerlichen Namen Karsten Löwe bei Radio38 moderiert, schuf als Solokünstler Ende der 1990er-Jahre gleich ein halbes Dutzend Hitsingles. Die kommerziell erfolgreichste: „Du fehlst mir“ von seinem 1997 releasten Debütalbum „Lautsprecher“.

Die von Matthias Lanzer, Ole Sander und Christian Eitner initiierte Gründung der Jazzkantine markiert 1993 einen bedeutenden Meilenstein in der Entwicklung der Jazz- und Hip-Hop-Musik. Mit ihrer Fusion aus den beiden Genres schufen die Mitglieder der Band eine völlig neue Klangwelt, die Jazzliebhaber als auch Hip-Hop-Fans gleichermaßen begeisterte. Die Jazzkantine erfreute sich schnell großer Beliebtheit und fand eine bis heute treue Anhängerschaft. Erfolgreiche Alben wie „Geheimrezept" (1995) und „Hell's Kitchen" (1998, Platz eins der deutschen Jazzcharts) brachten der Band zahlreiche Auszeichnungen und hohe Chartplatzierungen ein. Seit ihren Anfängen gilt die Jazzkantine als fleißige Live-Band. Die Zahl der in Deutschland, Österreich und der Schweiz absolvierten Konzerte liegt im vierstelligen Bereich, erst im vergangenen Herbst spielten sie zwei ausverkaufte Shows im Braunschweiger Westand. Daneben widmeten sich die Bandmitglieder immer wieder Kollaborationen mit anderen Künstlern wie Smudo oder Götz Alsmann oder der Produktion eigener Theaterabende unter anderem mit dem Staatstheater Braunschweig.

Einige Mitglieder des Kollektivs gehen inzwischen eigene Wege. Keyboarder Jan-Heie Erchinger beispielsweise war schon vor seinem Engagement bei der Jazzkantine (bis 2010) musikalisch aktiv – mit dem Duo Blue Knights gelang ihm 1992 eine Billboard Top-Ten-Platzierung in den US-amerikanischen NAC Jazz Charts – und veröffentlichte im Anschluss daran zahlreiche Soloalben.

Während Braunschweig in dieser Dekade dem Jazz huldigte, erlangten im benachbarten Wolfsburg von Mitte respektive Ende der 1980er- bis Ende der 1990er-Jahre vor allem Metal-Bands wie Protector oder Heavens Gate Bekanntheit. Während Protector deutschlandweit kleinere Erfolge feiern konnte, sich 2001 nach diversen Umbesetzungen auflöste und 2011 – forciert von Sänger Martin Missy – wieder zusammenfand, war Heavens Gate auch international erfolgreich. Die erste CD „In Control“ aus dem Jahr 1989 gelangte in Japan in die Top Ten der Import-Charts. Noch im selben Jahr nahm man die Mini-CD „Open the Gate“ auf und wechselte anschließend zur Plattenfirma SPV/Steamhammer. Das 1991 veröffentlichte zweite Album „Livin' in Hysteria“, das sich allein in Japan mit über 40.000 Exemplaren verkaufte, wurde zum weltweiten Erfolg, der ein Jahr später mit „Hell for Sale“ sogar noch übertroffen werden konnte. Im Anschluss folgten noch eine Live-LP, ein Unplugged-Album sowie zwei reguläre Platten, bevor die fünf Wolfsburger von 1999 an getrennte Wege gingen.

Musik aus der Region im TV

In noch einmal anderen musikalischen Gefilden waren die punkigen Shifty Sheriffs um ihren charismatischen Frontmann Sven Brandes (später mit Michael Röhl als Duo unter dem Namen Rosenfels erfolgreich), unterwegs. Eine EP und zwei Alben boten in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre Futter für das eine oder andere Video. Mit Songs wie „Let me down“ erhielten die Braunschweiger Airplay beim Musiksender MTV. Immerhin in Ingolf Lücks damalige ZDF-Talentshow „Hut ab“ schafften es Bighouse, die vor allem in Fernost vor größerem Publikum spielten und sich später in Starfish umbenannten. In Erinnerung geblieben ist Band-Keyboarder Ole Schulz-Weber (Herausgeber des Buches „Bohlweg-Zeiten: Die 80er in Braunschweig“ und Sparringspartner bei der Erstellung dieses Artikels) vor allem das Japan-weit im TV übertragene Konzert in der Tokioter Nippon Budōkan.

Eine Umbenennung brachte zum Jahrtausendwechsel auch der Alternative Rockband Eat Her Eyes kurzzeitig Ruhm und Ehre. Als Sonnit firmierten die mit einem Sony-Major-Deal ausgestatteten Musiker fortan und veröffentlichten alsbald ein Studioalbum („Popgun“). Zwischen den Sommern 2002 und 2003 wurde die erste Ohrwurm-Single „Heaven is Close“ oft im Radio gespielt, sodass sie für drei Monate in den Airplay-Charts vertreten war. Das dazugehörige Video rotierte zeitweilig auf dem Musiksender VIVA. Das selbstbetitelte zweite Album, fünf Jahre später lief dann unter dem Radar der breiten Öffentlichkeit. In der Region musikalisch aktiv ist aus der Sonnit-Riege bis heute Peter M. Glantz der mit Christian Krüger das artpoppige Krügerglantzquartett ins Leben gerufen hat.

Von Salzgitter aus sorgte im Grunge-Jahrzehnt die bereits 1991 gegründete Rockband Vivid um Sänger Thomas Hanreich für Furore. Spätestens mit ihrem Vertrag bei Virgin Records hatte sie auf einmal ganz Deutschland im Gehörgang. Bis heute ist ihr Hit „Still" vom dazugehörigen Album „Go!“ unvergessen. Mit der Folgeplatte „Sundown to Sunrise“ erzielte die Band sogar eine noch höhere Chartplatzierungen – und war mit den Singleauskopplungen Stammgast im Musikfernsehen. Bevor das Quartett ein Jahr nach „Auto All“ in 2001 für die Fans doch etwas überraschend seine Auflösung bekanntgab. Immerhin: Seit 2011 ist Thomas Hanreich Sänger der Band Stereolove, die er zusammen mit vier Reamonn-Mitgliedern gegründet hatte. Darüber hinaus wandte er sich in der Folge mehr und mehr der Filmmusik zu, schrieb unter anderem den Soundtrack zu Wim Wenders' Film „Land of Plenty“ und arbeitete auch darüber hinaus in mehreren Projekten eng mit dem Regisseur zusammen.

Die Nullerjahre

Mit seinen Bands Sisyphean Task, Milk auf Ex und Underwater Circus sorgte Markus Schultze zunächst in der Liga „Local Hero“, später aber auch national für Aufsehen. Weitaus bekannter wurde der Wolfenbütteler jedoch in seiner Zeit als Moderator bei MTV Germany von 2000 bis 2006. Für den Sender moderierte er verschiedene Sendungen wie „Select“ und „Brand Neu“. Heute, so hat es den Anschein, ist Schultze bei Musik- und sonstigen Großveranstaltungen in der Region38 als Moderator quasi gesetzt. Auch Musik macht er weiterhin, als Solokünstler und Bandleader der Coverband Indiegos.

Als Pionier des Genres Neue Deutsche Härte hat sich die in Wolfsburg gegründete Band Oomph! einen Namen gemacht. Seit den späten 1980er-Jahren aktiv, ist die Band kommerziell vor allem seit Mitte/Ende der 1990er-Jahre erfolgreich. Der große Durchbruch gelang 1999 mit dem Album „Plastik“ und den Singles „Das weiße Licht“ und „Fieber“. Im Februar 2004 landeten sie mit „Augen auf!“ einen Nummer-eins-Hit in Deutschland. Das Album „Wahrheit oder Pflicht“ schaffte es auf den zweiten Platz der deutschen Album-Charts und erreichte Platin-Status. Bis heute veröffentlicht und tourt Oomph! konstant erfolgreich. Allerdings hat Sänger und Schlagzeuger Dero die Band im Herbst 2021 verlassen.

Axel Bosse

Die Region verlassen hat unlängst Axel Bosse. Am Rande des Elms großgeworden, unterschrieb er im zarten Alter von 17 Jahren mit seiner damaligen Band Hyperchild den ersten Plattenvertrag. Nach Auflösung der Band, startete der Wahlhamburger 2003 seine Solokarriere und hat sich heute als einer der bedeutendsten deutschen Künstler etabliert. Mit fünf seiner Alben erreichte Bosse die deutschen Top Ten, mit „Engtanz“ und „Alles ist jetzt“ war er sogar auf Nummer eins. Bosse steht für charismatische Bühnenpräsenz und mitreißende Live-Auftritte, was insbesondere in unserer Region weiß Gott niemandem mehr erklärt werden muss. Im Laufe seiner Karriere hat Bosse zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den renommierten Echo-Preis sowie den Paul-Lincke-Ring der Stadt Goslar.

Von Hip-Hop bis Klassik

Auch in jüngster Zeit gibt es zwischen Harz und Heide spannende Künstler aus den verschiedensten Genres zu entdecken. Negatiiv OG und seine Mitstreiter beim von Gregor Seyffarth gemanagten Label Checkmate Collective (siehe separate Artikel auf den Seiten xx) mischen beispielsweise seit knapp fünf Jahren, dank Universal-Deal auch kommerziell erfolgreich, die deutsche Rap-Szene auf. Gerade hat er mit „Schlechtes Karma 2“ seinen neuesten Streich releast. Bands wie The Twang, die sich durch die Countryfizierung von bekannten Rock-, Pop- und Discosongs einen Namen gemacht, die Indie-Rocker Fly Cat Fly, deren starke Indie-Poesie leider noch immer unter „Geheimtipp“ zu verbuchen ist, oder das formidable Restorchester von Jens Müller (früher bei Bighouse und Starfish), welches schicken Chanson-Pop zu spielen in der Lage ist, besetzen wie noch einige weitere mit viel Liebe zur Musik Nischen-Themen, denen zumindest ein größeres Publikum zu gönnen wäre.

Und wer nun gar keine Lust auf Popularmusik hat? Den zieht es vielleicht ins Theater. Das 1587 von Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel gegründete Staatsorchester Braunschweig erfüllt aktuell unter der Leitung von Generalmusikdirektor Srba Dinić die Herzen der Musikliebhaber mit harmonischen Klängen und begeistert sein Publikum mit erstklassigen Aufführungen. Als eine der renommiertesten musikalischen Institutionen Welt ist das Kulturorchester ein wahrer Schatz für die Kulturlandschaft der Region.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Stadtglanz Print-Ausgabe 27 / Sommer 2023.

André Pause

ist seit dem 01.03.2023 Head of Content der mediaworld GmbH sowie Chefredakteur des Magazins Stadtglanz. Nach seinem Studium an der FH Hannover schrieb und fotografierte der Diplom-Journalist freiberuflich für regionale Medien sowie die Deutsche Presseagentur (dpa) und Fachzeitschriften aus dem Bereich Kultur. Zuletzt verantwortete er als Chefredakteur der Industrie- und Handelskammer (IHK) Braunschweig sechs Jahre lang deren Mitgliederpublikation „IHK Wirtschaft“.

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