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HARZGLANZ

24. November 2021

Heimat in einem fremden Land

Ich komme aus dem Land, in dem das Wort „HEIMAT“ groß- geschrieben und mit besonderem Stolz ausgesprochen wird.

(Foto: VASYL)

HEIMATLIEBE wurde allen Russen mit der Muttermilch eingeflößt und danach fest ins
Gehirn eingehämmert.

„Schütze die HEIMAT – deine Mutter!“ oder „Wo man geboren wird, da wird man gebraucht“! Mit diesen Mottos bin ich wie alle anderen Kinder der ehemaligen Sowjetunion aufgewachsen. Wir sollten vor Stolz auf die HEIMAT platzen und nie auch nur ansatzweise auf den Gedanken kommen, die HEIMAT zu verlassen. Ich habe es trotzdem getan.

Als ich zum ersten Mal in Deutschland war, dachte ich nie im Leben, dass ich hier bleiben würde. Es kam mir alles sehr fremd vor. Und obwohl ich schon sehr gut Deutsch sprach, konnte ich die Menschen kaum verstehen. Es mag ein wenig am bayerischen Dialekt gelegen haben.

Alles andere war auch irgendwie anders: auf den Straßen zu ruhig, zu geleckt, die Leute zu freundlich. Niemand schubst dich mit den Ellbogen oder tritt dir auf die Füße. Und falls doch, gibt es eine Entschuldigung. Nach zwei Wochen „Urlaub“ hatte ich von der überwältigenden Freundlichkeit und Höflichkeit die Nase voll. Ich wollte zurück in mein Leben in der chaotischen Großstadt. Das hier war nichts für mich.

Drei Jahre später war ich dann doch wieder da. Da, um mein neues Leben zu beginnen. Ich hatte mich verliebt. In Moskau wollte mein Traumprinz nicht leben, weil er in dem ganzen Chaos Panikattacken und Angst um sein Leben bekam.

Der Umzug fiel mir nicht schwer. Ich habe nicht lange darüber nachgedacht und schon war ich wieder in Deutschland. Ich stürzte mich mit vollem Einsatz in den neuen Alltag. Vieles kam mir hier einfacher vor: Nicht so viele Menschen auf den Straßen. Nicht so viele Menschen in den Geschäften. Nicht so dichter Verkehr. Und wenn man ausgeht, muss man sich nur ein wenig herausputzen.

Man kann im Restaurant oder im Theater ein altes T-Shirt und schäbige Turnschuhe tragen. Es interessiert schlicht niemanden. Die Menschen versuchen, nicht etwas zu zeigen, das sie nicht sind. Für Russen ist das, was sie nach außen darstellen, jedoch extrem wichtig, lebenswichtig. Nichts im Kühlschrank, aber eine Designertasche muss sein, damit die Anderen den richtigen Eindruck haben.

Ich finde eine gute Mischung aus deutscher Funktionalität und russischer Vorstellung von Schönheit ideal für mich. Deutsche Rationalität gemischt mit russischem Lebensgenuss. Gute deutsche Ordnung, aber auch spontan sein und ab und zu mal etwas Verrücktes tun. Das ist in Deutschland möglich. Und solange ich keine Mettbrötchen essen, „Tatort“ sehen oder zum Schlagerkonzert gehen muss, fühle ich mich wohl hier.

Natürlich habe ich auch Heimweh. Ich bin ausgewandert. Aber ich bin nicht im Gefängnis. Ich kann jederzeit ein Ticket kaufen, zwei Stunden Flug und voilà, da bin ich. Dann kann ich meine Großstadtseele baumeln lassen, Freunde und Familie sehen und russische Leckereien genießen. Wie zum Beispiel Fisch in etlichen Sorten, eingelegt, gesalzen oder getrocknet. Oder frisch gekochte Flusskrebse. Sowas bekommt man in Deutschland nicht.

Und natürlich fehlen die Beschimpfungen. Nirgendwo flucht man wie in meiner Heimat. Nirgendwo zeigt man mit Schimpfworten Begeisterung, Erstaunen oder Mitgefühl. Es fehlt mir hier, dass die Leute zumindest ein wenig aus sich herauskommen. Dass die Leute ihre Gefühle nicht nur hinter einem freundlichen Lächeln oder freundlichen Floskeln verstecken.

Oft wurde ich gefragt: „Na! Wo ist es besser? In Deutschland oder in Russland?“. Oder: „Hier in Deutschland ist es doch schöner, oder?“.

Da bekomme ich jedes Mal Zahnweh. Auch wenn ich in einer Baracke mitten in der sibirischen Taiga geboren wäre – Heimat bleibt Heimat! Es ist wie mit der Familie: Du kannst sie dir nicht aussuchen. Du kannst sie nicht ändern. Sie ist nicht perfekt. Manchmal ist sie auch nervig. Aber du nimmst sie, so wie sie ist und hast sie trotzdem lieb. Egal, wo du bist, sie ist immer ein Teil von dir.

 

Jenny Hoffmann

Lehramtsstudium Deutsch als Fremdsprache an der Pädagogischen Universität der Stadt Moskau. Magistra Artium der Germanistik an der Universität Magdeburg. Seit 2003 in Deutschland lebend. Zuletzt Lehrerin für Integrationskurse an der Oskar -Kämmer-Schule. Aktuell Lehrerin für Deutsch als Muttersprache und Deutsch als Fremdsprache an einer Schule in Peine.

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