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HARZGLANZ

1. Dezember 2017

Ein Kunstwerk sein oder eines tragen

STADTGLANZ zu Besuch im Schloss Derneburg Museum

(Fotografie: Nina Stiller)

"Nehmen Sie auch gleich an einer Führung hier im Schloß teil?", fragt mich ein freundlicher Herr am Tor zum Schloss Derneburg Museum. Nachdem ich seine Frage bejahe, entgegnet er: "Ist ja ganz schön, das hier zeitgenössische Kunst gezeigt wird, aber das interessiert mich eigentlich gar nicht so sehr, ich würde einfach nur gerne mal das Schloß sehen. Darauf haben wir alle in dieser Gegend schon lange gewartet." Mit diesem Kommentar im Hinterkopf betrete ich die große Eingangshalle von Schloß Derneburg und frage mich: Was werde ich ich hier eigentlich zu sehen bekommen? Ist es ebenfalls nur Neugier einmal zu sehen wie man heute in einem Schloß wohnt oder geht es mir tatsächlich mehr um die Kunst?

Höflich werde ich um 11 Uhr mit den anderen Teilnehmern der Führung von Kai Heinze, einem Kunsthistoriker und Direktor des Hauses im Namen des Ehepaars Hall empfangen und darauf hingewiesen, dass wir alle sieben Ausstellungen, die zur Zeit im Schloß und seinen Nebengebäuden zu sehen sind, begehen werden. Um 13 Uhr würden wir zum Mittagessen in der Schloßküche erwartet, um anschließend weitere vier Ausstellungen zu sehen, so Heinze. Zum ersten Mal kommen mir Zweifel am Motiv meines Besuchs. Sollte es tatsächlich möglich sein, sich vier Stunden nur auf Kunst zu konzentrieren, unterbrochen von einem Mittagessen?

Seit dem 1. Juli 2017 ist Schloss Derneburg Museum für die Öffentlichkeit im Rahmen von geführten Rundgängen zugänglich. Erstmals im Jahr 1143 erwähnt und damals noch ein einfacher Herrenhof, war Schloß Derneburg ab dem 13. Jahrhundert zunächst ein Augustiner Chorfrauenstift und später ein Zisterzienserkloster. Nach seiner Verweltlichung im Jahr 1803 fiel es zunächst vom Bistum Hildesheim an die Herzöge von Baunschweig, danach an die Welfen. Ab 1814 baute es Graf Ernst Friedrich zu Münster schließlich zu einem Schloß und Adelssitz aus. Anschließend war Schloß Derneburg von 1974 bis 2006 Wohnsitz des Künstlers Georg Baselitz und seiner Frau Elke, bevor im Jahr 2006  das Sammlerehepaar Andy & Christine Hall Schloß Derneburg mitsamt der Sammlung deutscher Nachkriegskunst des Ehepaars Baselitz erwarb. Danach wurde es ruhig um Schloß Derneburg.

Unsere Führung beginnt im Kreuzgang des Hauses, der den u-förmigen Grundriss mit dem typischen Kreuzgewölbe wiederspiegelt. Das Werk "Expansion Field" des britischen Bildhauers Antony Gormley ist zu sehen. Gormley begreift hier den menschlichen Körper als Ort von Transformation und Achse zwischen physischer und räumlicher Erfahrung. 22 Skulpturen sind insgesamt zu sehen, die den subjektiven Körper-Raum in unterschiedlichen Zuständen emotionaler Ausdehnung und Anspannung zeigen, Kai Heinze weist uns darauf hin, dass wir uns de facto auf einem Friedhof befinden. Nachdem das Ehepaar Hall 2006 das Haus erwarb und eine große Skulptur des Künstlers Julian Schnabel in der Eingangshalle installierte, stieß man auf ein Grab mit menschlichen Gebeinen. Es folgten schließlich 2 Jahre denkmalpflegerische Arbeiten von Archäologen, bei denen insgesamt zweiundvierzig Gräber von Mönchen entdeckt wurden. Ranghohe Mönche hatten seinerzeit das Privileg im Kreuzgang begraben zu werden. Anschließend erfolgte dann eine Renovierungsphase von 10 Jahren. Der gesamte Kreuzgang ist durchströmt von einem bläulich-roten Licht, dass sich in den Cortenstahl Skulpturen Antony Gormleys wiederspiegelt. Im Haus wird uns bis zum Mittagessen keine weitere Person begegnen. Ich bin beeindruckt von dieser Oase der Ruhe. Schnell komme ich mit den anderen Teilnehmern der Gruppe ins Gespräch. "Sonst wird man ja in anderen Museen vom Besucheransturm regelrecht erschlagen.", flüstert mir eine andere Teilnehmerin der Führung zu. "Ich denke das ist eben der Vorteil einer individuellen Führung", entgegnet eine andere Teilnehmerin.

Ausserhalb des Schlosses sollten sich die Nebengebäude als genauso sehenswert erweisen wie das Innere des Schlosses. Im ehemaligen Kuhstall wird ein weiteres Werk von Antony Gormley präsentiert, das mir den Atem verschlägt: European Field, ein immenses Feld kleiner Tonfigurinen, 35000 an der Zahl, starrt uns erwartungsvoll an. Gormley hat es mit Hilfe von 16 Studentinnen und Studenten der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig in nur drei Tagen aufgebaut. Die Parallelen zu heutigen gesellschaftlichen Fragen, wie zum Beispiel Flucht überraschen.

Nachdem wir den Kuhstall verlassen haben betreten wir die ehemalige Getreidescheune mit einem Werk des Künstlers Anthony McCall, Between You and I". Innerhalb des Gebäudes ist es fast stockdunkel. Zwei Lichtprojektionen lassen Lichtkegel von der Decke erscheinen, die eigene Räume aus Licht und Nebel innerhalb der Scheune zutage treten lassen. Skulpturen aus Licht, die  die Fluidität unserer zeit wiederspiegeln und eigentümlich surreal anmuten.

Zwischenzeitlich ist es 13 Uhr und wir werden zum Mittagessen in die Schloßküche gebeten. Hier erwarten uns drei Gänge. sämtliche Produkte kommen aus der Region. Es gibt hausgemachten Kartoffelsalat mit Weisswürstchen, dazu Gurkensalat. Als Dessert wird die Lieblingsspeise der Hausherrin serviert: Eine Joghurt- und Quarkspeise mit Himbeeren. Mittlerweile fühle ich mich fast wie bei Freunden zuhause.

Anschließend werden wir in das große Atelier im Schloßpark geführt, erbaut von Georg Baselitz Mitte der 90-er Jahre. Ausstellungen von Julian Schnabel und Barry LeVa werden hier präsentiert. Mit seinen knapp elftausend Quadratmetern Ausstellungsfläche bietet Schloss Derneburg Museum eine enorme Bandbreite zeitgenössicher Kunst. Auf dem Weg vom Baselitz-Atelier zurück zum Schloß erinnere ich mich zum ersten Mal an den Herrn am Schloßtor. Das Innere des Schlosses ist mir architektonisch bis jetzt gar nicht weiter aufgefallen. Es interessiert mich auch nicht weiter und das ist auch kein Wunder. Da Schloß Derneburg über sechshundert Jahre vor allem eine Klosteranlage war, findet man bis heute kaum Ornamentik, wie etwa in Renaissance- oder gar Barockschlössern. Fliegende Putten sucht man vergebens. Sie fehlen mir nicht. Denn wohl gerade deshalb eignet sich das Haus mit seiner eher nüchternen Innenarchitektur vor allem zur Präsentation zeitgenössicher Kunst.

Nachdem wir eine Ausstellung zum Thema Videokunst, mit dem Titel  "Die Tatsache des Ungewissen" und schlussendlich die Guppenausstellung Für Barbara, ausschließlich weiblichen Künstlerinnen gewidmet, gesehen haben, wird mir eigentlich klar, warum ich hier bin. Am Schluß der Führung werden wir abermals in die Schloßküche gebeten. Diesmal zu Kaffee und Kuchen, wiederum hausgemacht. Mittlerweile sind alle 18 Teilnehmer der Führung 4 Stunden auf den Beinen gewesen, es zeigen sich erste Zeichen von Erschöpfung. Und ich frage mich, wann ich das letzte Mal 4 Stunden in einem Museum zugebracht habe. Kai Heinze weist uns darauf hin, dass von zukünftig sechs Ausstellungen, zwei pro Jahr wechseln werden. Die Sammlung des Ehepaars Hall beläuft sich auf über 5000 Werke, zusammen gefasst in der Hall Art Foundation, der 2007 gegründeten Stiftung. "Schön, das es hier so etwas gibt.", sagt meine Tischnachbarin beim Tee. "Schlösser kann man ja überall sehen, aber die Kunst ist doch hier das Besondere". Unweigerlich fällt mir der berühmte Satz Oscar Wildes ein: Man sollte entweder ein Kunstwerk sein oder eines tragen.Schloß Derneburg erscheint heute ganz im Kleid der Kunst.

Ein Besuch von Schloss Derneburg Museum ist nach Voranmeldung im Internet möglich.

Jens Richwien

Ehemaliger Fußball-Profi und Freizeit-DJ (Richy Vienna), war über 20 Jahre für die neue Braunschweiger tätig. Die letzten drei Jahre begleitete er STADTGLANZ als Objektleiter und Chefredakteur. Er ist seit Oktober bei der Hygia Gruppe beschäftigt, betreut dort das B2B-Business und arbeitet weiterhin als freier Redakteur.

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